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Grünen-Parteitag: Claudia Roth wiedergewählt: Die 88-Prozent-Seelen-Massage

Grünen-Parteitag

Claudia Roth wiedergewählt: Die 88-Prozent-Seelen-Massage

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    Cem Özdemir und Claudia Roth freuen sich über ihr Wahlergebnis. Nach der Schmach bei der Urwahl bekommt Claudia Roth bei der Wahl zur Parteivorsitzenden das Vertrauen der Grünen zurück.
    Cem Özdemir und Claudia Roth freuen sich über ihr Wahlergebnis. Nach der Schmach bei der Urwahl bekommt Claudia Roth bei der Wahl zur Parteivorsitzenden das Vertrauen der Grünen zurück. Foto: dpa

    Wie viele Parteifreunde und -freundinnen Claudia Roth an diesem Wochenende herzt und fest in die Arme nimmt – keiner dürfte es gezählt haben, aber alle haben sie gesehen. Sie ist in ihrem Element. Es ist die Claudia Roth, die jeder kennt – und nicht wenige auch nervt. Eine Woche zuvor hat alles noch anders ausgesehen. Da war „die Claudia“, wie sie jeder nennt, noch im tiefen Tal der Enttäuschung. Es hätte nicht viel gefehlt, und die Augsburger Bundestagsabgeordnete hätte ein Jahr vor der Bundestagswahl die Grünen in eine Führungskrise gestürzt. Sie selbst spricht von „Stunden mit Schatten“. Das Debakel bei der Urwahl, die 26-Prozent-Erniedrigung durch die Mitglieder bei der Kür der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl, hat in ihr gearbeitet.

    „Wir brauchen die Claudia“, sagt die Oberallgäuer Grüne Elfriede Roth. Es gebe doch keine Alternative zu der Vorsitzenden mit ihrer jahrelangen Erfahrung, niemanden, der so für die Grünen lebt, und keinen „Plan B“ für einen eventuellen Rückzug oder gar ein Scheitern der 57-Jährigen auf dem Parteitag. Und

    Statt Schwarz trägt sie wieder die Farbe ihrer Partei

    In diesem Augenblick scheint jedenfalls alles vergessen, was Claudia Roth und große Teile der Grünen in den vergangenen Tagen erschüttert hat – zumindest nach außen hin. „Die Trauerzeit ist vorbei“, sagt sie unter tosendem Jubel. Ja, Claudia Roth hat ihre Grünen wieder lieb und die Delegierten des Parteitages in der schmucklosen Eilenriedehalle in Hannover erwidern ihre Liebe. Die Beifallsstürme für eine ihrer kämpferischsten Reden und das 88-Prozent-Ergebnis bei ihrer Wiederwahl zur Parteivorsitzenden, sie wirken wie eine heilende Seelenmassage.

    Die Parteivorsitzende zeigt rein äußerlich schon deutlich, dass sie nicht mehr trauert. Am vergangenen Montag, als sie ihre zweitägige Einkehr beendet und ihr Weitermachen verkündete, hat sie noch Schwarz getragen – auch am Freitag noch zu Beginn des Parteitages, als sie die Stimmung vorsichtig abtastet und nur dann in Aktion tritt, wenn sie Gastrednern danken und Dankgeschenke wie grüne Schals überreichen darf. Am Tag der Entscheidung hat sie Schwarz abgelegt. Der Blazer, den sie trägt, ist grau mit grünem Kragen, auch drunter trägt sie Grün und selbst die Handtasche hat sie passend zu den Farben der Partei ausgewählt.

    Claudia Roth nimmt ihren Platz auf der Bühne ein. Auf dem Tisch vor ihr steht ein knallroter Granatapfel, seit Urzeiten ein Symbol für Leben und Fruchtbarkeit, aber auch für Macht. Sie will es heute allen nochmals zeigen.

    Vor der Wahl hört sie sich geduldig die vierstündige kontroverse Debatte über das fast 1000 Zeilen lange Sozialprogramm an, eine Diskussion von Bildungsföderalismus und Betreuungsgeld bis zu Rente mit 67 und Arbeitslosengeld II. Es ist eigentlich der Themenbereich, für den sie im Vorstand zuständig ist. Aber jetzt ist sie nur stille Beobachterin von Meinungsbildung und Abstimmungsmarathon. Sie ist in diesem Augenblick die vielleicht geduldigste Zuhörerin im Saal. Claudia Roth zieht sich erst in die Reihen der normalen Delegierten zurück und das auch nur vorübergehend, als die Vorbereitungen für die Vorstandswahlen beginnen.

    Das Vertrauen ist noch da

    Das ist Claudia Roth

    Claudia Roth erblickte am 15. Mai 1955 im schwäbischen Ulm das Licht der Welt. Sie wuchs in der Nähe von Memmingen als Tochter einer Lehrerin und eines Zahnarztes auf. Die linksliberale Gesinnung der Eltern hatte erheblichen Einfluss auf ihren Werdegang.

    Nach dem Abitur studierte sie für zwei Semester Theaterwissenschaft in München. Das Landestheater Schwaben stellte sie 1975 als Dramaturgin ein. Anschließend arbeitete Claudia Roth für das städtische Theater in Dortmund und für das Kinder- und Jugendtheater in Unna.

    In Dortmund lernte sie die Kult-Band "Ton, Steine, Scherben" um Frontman Rio Reiser kennen. Von 1982 bis 1985 war Claudia Roth die Managerin der Gruppe. Gleichzeitig lebte sie zusammen mit den Musikern in der Scherben-Kommune in Schleswig-Holstein.

    Schon als Jugendliche engagierte sich Claudia Roth bei den Jungdemokraten. 1985 begann ihre Laufbahn bei den Grünen. Über die taz suchte die Bundestagsfraktion eine Pressesprecherin. Claudia Roth bewarb sich erfolgreich und behielt die Position bis 1989. Anschließend wurde sie ins Europaparlament gewählt.

    In Brüssel setzte sie sich vor allem für die Wahrung der Menschenrechte ein. Insbesondere versuchte sie die Lage der kurdischen Minderheit in der Türkei zu verbessern. Aber auch die Gleichstellung Homosexueller war für Claudia Roth ein zentrales Anliegen.

    1998 wurde Claudia Roth in den Bundestag gewählt. Bis 2001 stand sie dem neu gegründeten Ausschuss für humanitäre Hilfe und Menschenrechte vor. Anschließend übernahm sie für knapp zwei Jahre den Parteivorsitz.

    Nachdem 2003 eine Lockerung der strikten Trennung von Amt und Mandat beschlossen wurde, kandidierte Claudia Roth 2004 erneut für den Parteivorsitz. Sie konnte die Wahl für sich entscheiden und wurde seither immer wieder im Amt bestätigt.

    2004 wurde sie für ihr Engagement als Beauftragte für humanitäre Hilfe und Menschenrechte mit dem Ritterorden der französischen Ehrenlegion ausgezeichnet.

    Claudia Roth ist außerdem Sprecherin des DFB-Umweltbeirates. 2010 hat sie sich erfolgreich für eine klimafaire FIFA Frauen-WM eingesetzt.

    2013 gibt Claudia Roth nach der Wahl ihr Amt als Parteivorsitzende ab und ist seither als Bundestags-Vizepräsidentin in der Politik aktiv.

    „Zusammen hält besser“ – in riesigen Lettern hängt das Parteitagsmotto weiterhin hinter dem jetzt leeren Stuhl der Claudia Roth. Zwei weitere Jahre mit ihr zusammen und an seiner Seite wolle er die Grünen anführen, hat auch der andere Parteivorsitzende, Cem Özdemir, schon am Vortag gesagt und damit einen warmen Beifall ausgelöst. In Hannover wächst ganz augenscheinlich wieder zusammen, was zusammengehört.

    Aber Claudia Roth setzt noch eins drauf, hat ihre Energie für diesen einen Augenblick gesammelt. Plötzlich überwiegt wieder das Gute an der Urwahl, trotz ihrer Niederlage. „Wir sind furios gestartet“, sagt sie. Die Mitglieder seien mobilisiert worden wie noch nie, die Urwahl sei ein „Alleinstellungsmerkmal grüner Demokratie“. Sie werde eine Bundesvorsitzende sein, „die sich voll reinhängt“.

    Sie will kein Mitleid, sondern eine ehrliche Antwort, „ob das Vertrauen noch da ist“, ob die Partei sie so will, wie sie ist, „mit Ecken und Kanten“. Sie will sich nicht verbiegen. „Das ändern will ich nicht“, sagt sie, „und geklonte Identität mag ich nicht.“ Jeder hört ihr zu. So ruhig sind die Delegierten weder vor noch nach ihrer für alle grünen Kandidaten obligatorischen Vorstellungsrede. Allenfalls noch am Sonntag, als die Co-Vorsitzende der erst in diesem Jahr gegründeten japanischen Grünen, Uiko Hasegawa, die Herzen der Delegierten im Sturm erobert.

    Das "Nerven" will sich Claudia Roth nicht abgewöhnen

    Claudia Roth ruft die Partei auf zu kämpfen und verspricht das Gleiche auch für sich selbst: „Kämpfen kann ich, liebe Freundinnen und Freunde, und das Nerven, das gewöhn’ ich mir auch nicht mehr ab.“ Die Rede enthält alle Themen, die das grüne Herz umschmeicheln: Es geht um die Frauenquote („die gibt es bei uns, wenn es wirklich um etwas geht“) und Multikulti („nicht out, sondern mega-in“), gegen Peer Steinbrück von der SPD („Gedöns ist vorbei“) und Familienministerin Kristina Schröder von der CDU („Sie ist der Beweis dafür, dass das biologische Alter kein Garant für junges Denken ist“). Der folgende Beifallssturm sagt alles, drei Minuten rhythmisches Klatschen, der Parteitag ist auf seinem emotionalen Höhepunkt.

    Und als um 16.17 Uhr ihr Wahlergebnis von exakt 88,49 Prozent verkündet wird, umarmen die beiden Spitzenkandidaten Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin die neue alte Vorsitzende sofort. Über Claudia Roth ergießt sich nochmals der „Candystorm“, ein Regen aus Bonbons. Am vorangegangenen Wochenende hat die Grüne Jugend im Internet mit einem „Candystorm“, dem süßen Gegenstück zum vernichtend wirkenden „shitstorm“, versucht, die Parteivorsitzende wiederaufzubauen. „Ich danke euch“, sagt die Vorsitzende jetzt in Hannover zu ihrer vierten Wiederwahl, sie winkt nach allen Seiten und strahlt wieder, aber sie verbeugt sich auch leicht und hält die Hände vor ihr Gesicht, als ob sie vom Ergebnis überrascht worden sei – bevor sie wieder ihren Stuhl einnimmt gleich hinter dem Rednerpult.

    Fünf Vorstandsmitglieder kandidieren für den Bundestag

    Die Wiederwahl von Cem Özdemir und den anderen vier Mitgliedern des Grünen-Vorstandes verblasst bei diesen Roth-Festspielen. Wie lange sie im Amt bleiben, entscheidet sich nach der Bundestagswahl 2013, bei der fast die gesamte engere Führung ein Mandat anstrebt. Nur der Oberbayer Benedikt Mayer (Ebersberg), der als Schatzmeister ein „sozialistisches Ergebnis“ von 97,4 Prozent einfährt, kandidiert nicht für das Parlament. Die anderen fünf stehen in einem Jahr vor der Entscheidung: Bundestag oder Partei. Hier greift das alte grüne Prinzip der Trennung von Amt und Mandat. Es wurde zwar – nicht zuletzt für Claudia Roth – vor vielen Jahren entschärft. Aber weiterhin erlaubt es lediglich einem Drittel der Vorstandsmitglieder, gleichzeitig auch Mandatsträger zu sein. Für bis zu drei Vorstandsmitglieder müssten also bereits in einem Jahr Nachfolger gefunden werden.

    Nach ihrer Wahl bekommt auch Claudia Roth selbst viele Umarmungen und Dankeschöns sowie den grünen Schal, den sie selbst in den Tagen von Hannover so oft anderen umgehängt hat. Darauf steht: „Grün gewinnt.“ Der Wahlkampf der Grünen kann endgültig beginnen.

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