Als der britische Ex-Premier Boris Johnson in Oxfordshire nordwestlich von London am Donnerstag offenbar gut gelaunt seine allmorgendliche Joggingrunde drehte, riefen ihm Journalisten eine entscheidende Frage zu: „Ist dies das Ende, Mr. Johnson?“ Er winkte kurz, ließ die Frage jedoch unbeantwortet. Nach der Veröffentlichung des mit großer Spannung erwarteten Berichts eines parlamentarischen Ausschusses, waren sich viele Experten gestern einig: Es handelte sich um einen weiteren, extrem harten Schlag.
Hatte Johnson das Unterhaus vorsätzlich belogen, als er wiederholt behauptete, dass die Lockdown-Partys in der Downing Street Nummer 10 in der Hochzeit der Pandemie nicht gegen Regeln verstoßen hätten? Dieser Frage ging ein Komitee seit über einem Jahr nach. Im März wurde der einstige Regierungschef sogar von den Ermittlern befragt, vor laufenden Kameras. Am Donnerstag veröffentlichte der Ausschuss nun sein vernichtendes Urteil und empfahl harte Sanktionen.
Es geht um vorsätzliche Lügen und Verstöße gegen die Corona-Lockdown-Regeln
Weil der 58-Jährige das Parlament mehrfach „in die Irre geführt“, „Vertrauen missbraucht“ und „den demokratischen Prozess des Repräsentantenhauses untergraben“ habe, forderte der Ausschuss, der überwiegend mit Abgeordneten seiner eigenen Partei besetzt ist, eine Suspendierung von 90 Tagen. Eine Strafe, die noch härter war als erwartet und welcher der Ex-Premier nur entging, weil er schon am vergangenen Freitag seinen Rücktritt erklärt hatte. Überdies soll ihm ein Pass, der ihm als früherer Abgeordneter Zugang zum Parlament verschaffte, entzogen werden.
Johnson hatte gegenüber dem Komitee wiederholt behauptet, dass ihm von seinen Mitarbeitern versichert worden sei, dass während der Pandemie in der Downing Street Nummer 10 alle Regeln und Leitlinien eingehalten worden seien. Laut dem Ausschuss war jedoch das Gegenteil der Fall: Seine Mitarbeiter sollen ihn sogar davor gewarnt haben, eine solche Aussage zu treffen, da sie „unrealistisch“ sei. Grund für die Härte der empfohlenen Sanktionen war wohl auch die Reaktion Johnsons, nachdem ihm der Bericht für eine Stellungnahme vorab zugesendet worden war. Er hatte den Ausschuss öffentlich als „kangaroo court“, also Scheingericht bezeichnet.
Johnson als Lügner? Viele Briten sehen sich bestätigt
Tim Bale, Politologe an der Queen Mary University of London, beschrieb den Bericht des Komitees als „vernichtend“. „Ich kann mir offen gesagt nicht vorstellen, dass ihn danach noch viele konservative Abgeordnete unterstützen werden”, sagte er gegenüber dieser Zeitung. Die stellvertretende Vorsitzende der oppositionellen Labour-Partei, Angela Rayner, betonte am Donnerstag, dass Johnson niemals hätte Premierminister werden dürfen und forderte überdies, dass er sich endlich bei den Menschen entschuldigen solle.
Viele Briten sehen sich nun in dem Bild von Johnson als Lügner bestätigt. Mit den Ermittlungen des Untersuchungsausschusses verbanden sie jedoch immerhin die Hoffnung auf Gerechtigkeit. Schließlich hatten die Bürger auf der Insel große Opfer gebracht, indem sie sich beispielsweise aufgrund der strengen Regeln während der Lockdowns nicht persönlich von im Sterben liegenden Verwandten und Freunden verabschieden konnten.
Johnson forderte die Mitarbeiter auf, selber ihren Alkohol mitzubringen
Die Partygate-Affäre nahm im Herbst 2021 ihren Anfang. Britische Medien veröffentlichten Berichte zu Feiern in der Downing Street und weiteren Regierungsbehörden während der Pandemie. Es gab einen Wein-Kühlschrank, Mitarbeiter forderten dazu auf, dass jeder seinen eigenen „booze“ (Alkohol) zu den Treffen mitbringen sollte. Johnson war bei den meisten dieser Feiern zwar nicht dabei, soll aber davon gewusst haben.
Der Ex-Premierminister wies diese Vorwürfe erneut zurück: „Es ist eine Lüge, dass ich das Repräsentantenhaus absichtlich in die Irre geführt habe“, schrieb er in einer am gestrigen Donnerstag zeitgleich mit dem Bericht veröffentlichten Erklärung und bezeichnete die Ergebnisse als „Unsinn“ und „politisches Attentat“. Bale beschrieb seine Verteidigung als lächerlich. „Sie lässt ihn wie einen erbärmlich schlechten Verlierer aussehen.“
Wie ein Kenner Johnsons dessen wütende Reaktion erklärt
Der Journalist Ian Dunt, der kürzlich das Buch „How Westminster works and why it doesn’t“ („Wie Westminster funktioniert und warum es das nicht tut”) veröffentlicht hat, erklärte die wütende Reaktion Johnsons gegenüber dieser Zeitung damit, dass dieser lange Zeit völligen Unsinn sagen konnte, „ohne dass jemand die Augenbraue hochzog“. Jetzt jedoch spüre er zum ersten Mal die Konsequenzen. Die Konservativen vermittelten auf den Wähler zunehmend den Eindruck, als ob sie „die Situation überhaupt nicht im Griff“ hätten.