Länderspezifische Zuschreibungen sollten immer wohldosiert sein, aber vermutlich tut man Großbritannien nicht ganz unrecht, wenn man sagt: Auf der Insel fluchen sie gerne. In britischen Komödien, so will es das Gewohnheitsrecht dort, muss mindestens 82-mal das uncharmante Wörtchen fucking vorkommen. Das lässt sich im Deutschen wohl am freundlichsten mit "verdammt" übersetzen.
Legendär sind auch die lautstarken Debatten im britischen Unterhaus. Während hierzulande Bundestagspräsidentin Bärbel Bas oft wirkt wie die Mediatorin einer Selbsthilfegruppe, muss ihr zur Ordnung rufendes Pendant in Großbritannien, der Speaker, fast schon türsteherähnliche Aufgaben übernehmen.
Ein hochrangiger Parlamentarier nutzt plötzlich das F-Wort.
Es ist ja auch zum Schreien, was da gerade im Königreich passiert: Die Wirtschaft stürzt ab wie eine Lawine und reißt alles mit sich. Auch Premierministerin Liz Truss, die sich gerade einmal sechs Wochen im Amt halten konnte. Kurz vor ihrem Rücktritt soll es im Unterhaus zu tumultartigen Szenen gekommen sein, zu Handgreiflichkeiten in der Lobby und einem Craig Whittaker, dem stellvertretenden Fraktionschef der regierenden Tories, der fluchend das Weite suchte: "I am fucking furious and I don't fucking care anymore." (Jugendfreie Übersetzung: Der Herr ist sauer. Und ihm ist alles egal.)
Nun darf kurioserweise im TV-Programm des verfluchten Großbritanniens vor 21 Uhr nicht geflucht werden, Anweisung der britischen Medienaufsichtsbehörde Ofcom. Es gibt zwar Ausnahmeregeln, wenn es der Kontext erfordert. Die bösen F-Worte des schmähenden Parlamentariers schafften es aber nicht auf die britischen Mattscheiben. ARD-Reporterin Annette Dittert hingegen kostete Wort für Wort aus.
Mit breitem britischen Akzent rezitierte sie Whittaker für ihr deutsches Fernsehpublikum – und ist so zum viralen Hit im englischsprachigen Twitterraum geworden. Mehr als 20.000 Menschen teilten Ditterts Videoclip. Die DailyMail schrieb auf ihrer Website: "Sogar die Deutschen lachen uns aus!"
Was sich derzeit in der britischen Politik abspielt, haben selbst erfahrene Journalistinnen und Journalisten auf der Insel noch nicht erlebt. Tim Shipman, der Chefkommentator der Sunday Times, kommentierte kürzlich auf Twitter: "Ich mache diesen Job jetzt seit 21 Jahren. Ich habe Millionen Worte über die letzten sechs Jahre geschrieben, in denen die britische Politik zu einem psychodramatischen Crack-Traum geworden ist. Heute ist vielleicht der beschissenste Tag von allen."
Es ist eine Mischung aus Resignation und Belustigung, die sich in Großbritannien breitmacht. Alle fluchen, alle lachen auch ein wenig. Vielleicht erträgt man das Chaos ja nicht anders. Die beiden britischen Politikjournalisten Harry Cole und James Heale haben in nicht ganz weiser Voraussicht ein Buch über Liz Truss geschrieben. Es trägt den Titel "Aus heiterem Himmel", soll von Truss' "erstaunlichem Aufstieg zur Macht" erzählen, und am 8. Dezember erscheinen. Das Internet lacht sich schlapp. Cole und Heale dürften fluchen.