Während es in den meisten Wahllokalen des Landes im Vereinigten Königreich am Donnerstagvormittag eher ruhig zuging, drängten sich im Londoner Stadtteil Camden bereits am Vormittag Dutzende Anhänger und Medienvertreter. Sie wollten dabei sein, wenn der mutmaßliche neue Premierminister Großbritanniens, Keir Starmer, seine Stimme abgibt. Als dieser dann Hand in Hand mit seiner Frau Victoria zu Fuß und umgeben von Leibwächtern eintraf, wirkte er zuversichtlich und lächelte. Und das zu Recht.
Laut ersten Hochrechnungen, die in Großbritannien als sehr zuverlässig gelten, hat die Labour-Partei die Parlamentswahlen am gestrigen Donnerstag ganz klar gewonnen. Demnach könnte sie 410 von 650 Sitzen im Parlament erhalten, die konservativen Tories kämen auf 131 Sitze. Die Liberaldemokraten kommen demnach auf 61 und die rechtspopulistische Partei Reform UK auf 13 Sitze.
Wahl in Großbritannien: Labour steht vor möglicherweise bestem Ergebnis der letzten 20 Jahre
„Das wäre eines der besten Ergebnisse für die Labour-Partei der letzten 20 Jahre”, sagte Sophie Stowers von der Denkfabrik UK in a Changing Europe dieser Zeitung. Die Partei habe nicht nur sehr viele Sitze, sondern auch viele „Wähler aus einer Vielzahl von sozioökonomischen, kulturellen, ethischen, geografischen und politischen Hintergründen für sich gewonnen“, sagte sie. „Die Herausforderung für die Regierung wird nun darin bestehen, all diese Wähler bei Laune zu halten.“
Eine Reihe von Meinungsumfragen deuteten darauf hin, dass der Vorsitzende der sozialdemokratischen Labour-Partei die Parlamentswahlen am Donnerstag gewinnen und die Konservativen nach mehr als einem Jahrzehnt an der Macht in die Opposition schicken wird. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov sagte bereits im Vorfeld einen „historischen Wahlsieg“ der Mitte-Links-Partei voraus. Demnach könnte Labour 39 Prozent der Stimmen erhalten, die Konservativen nur 22 Prozent.
Keir Starmer nach der Wahl in Großbritannien: „Ein neues Kapitel aufschlagen“
Großbritannien könne „ein neues Kapitel aufschlagen“, sagte Starmer, „eine neue Ära der Hoffnung und der Möglichkeiten nach 14 Jahren Chaos und Niedergang“. Tatsächlich sind viele Briten überzeugt, dass Veränderungen dringend nötig sind. Denn die Liste der Probleme und Skandale ist lang: Das staatliche Gesundheitssystem NHS steckt in der Krise. Da waren die Partys in der Downing Street während pandemiebedingten Ausgangssperren, die Folgen des Brexit und der katastrophale Minihaushalt von Ex-Premierministerin Liz Truss, der die britische Wirtschaft in eine Krise stürzte und die Hypothekenzinsen in die Höhe trieb. Nicht wenige Inselbewohner schämten sich für ihre konservative Regierung, dennoch machten die Tories weiter. Damit müsse nun endlich Schluss sein, so der Tenor.
Am Donnerstag schlug sich dann sogar die Boulevardzeitung „The Sun“ überraschend auf die Seite der Sozialdemokraten, nachdem sie jahrelang sehr kritisch über die Labour-Partei berichtet hatten. Die Botschaft: „Wir brauchen einen neuen Manager.” Diesem Aufruf schloss sich auch die Zeitung „The Mirror” an, die schon seit einigen Monaten Labour befürwortet. Unterstützung erhielten die Sozialdemokraten auch von einigen britischen Stars wie dem Sänger Elton John. Sogar der Vater von Ex-Premier Boris Johnson, Stanley Johnson, gab diese Woche zu, dass er statt den Konservativen zwar nicht Labour, aber die Liberaldemokraten wählen werde.
Das letzte Mal, dass ein Labour-Chef von einer konservativen Regierung abgelöst wurde, liegt 27 Jahre zurück. Im Mai 1997 errang Tony Blair einen Erdrutschsieg. Es herrschte Aufbruchstimmung und Optimismus lagen in der Luft. Blair werde das Land in eine bessere Zukunft führen. Er stand nach langen Jahren unter den Tories und einer zuletzt schwierigen Amtszeit des konservativen Premiers John Major, für ein offenes, ein „cooles” Großbritannien. Auch jetzt sehnen sich die Briten nach Veränderung. Aber die Stimmung ist eine andere. Die Menschen haben keine großen Hoffnungen, aber sie wünschen sich zumindest ein „Ende des Chaos”, ein weiteres Mantra von Starmer.
Im Moment gehe es vor allem darum, die Tories loszuwerden, sagte der 34-jährige Sean, der am Donnerstagmorgen in einem Wahllokal im Norden Londons seine Stimme abgab, dieser Zeitung. „Vielleicht wird alles ein wenig besser, ein bisschen weniger korrupt.” Bei der Wahl machten die Briten nur ein Kreuz für einen Kandidaten in ihrem Kreis. Wer die meisten Stimmen erhielt, zieht nun ins britische Parlament ein, die restlichen Stimmen verfallen. „Vor allem kleinere Parteien fühlen sich durch dieses System benachteiligt, andere befürworten es, weil es extremistische Parteien in Schach hält“, sagte Sophie Stowers von der Denkfabrik UK in a Changing Europe unserer Redaktion.
Boris Johnson gelang 2019 mit seinem Charisma und dem Versprechen, den Brexit schnell durchzuziehen, ein überwältigender Sieg in Großbritannien. Auch die abschreckende Wirkung des als radikal links geltenden Labour-Chefs Jeremy Corbyn sorgte dafür, dass die Sozialdemokraten damals viele Stimmen an die Konservativen verloren. Die Karte wurde blau, die Farbe der Tory-Partei. Starmer änderte den Ruf von Labour in den vergangenen fünf Jahren, machte sie in der Wahrnehmung der Briten zu einer Partei der Mitte.
Seine Strategie ging auf.
Es erfüllt mich mit großer Freude, dass die britischen Konservativen nun die Quittung für ihre neoliberale Politik und natürlich auch für den blödsinnigen Brexit erhalten haben. Das macht Hoffnung, dass der Rechtspopulismus auch in anderen Ländern überwunden werden kann, auch wenn der Weg dahin schmerzhaft ist. Labour hat nun viel zu tun, um die schlimmsten Fehlentscheidungen der letzten Jahre zu korrigieren. Dazu gehört auch ein wieder konstruktives Verhältnis zur EU.
Keine Angst Herr Leonhard, es wird sicher in GB ähnlich wie hier oder in den USA laufen: eine Konservative Regierung haut alles zu Glump, und wenn es der nachfolgenden Regierung nicht innerhalb weniger Monate gelingt den Scherbenhaufen zusammenzukehren (ohne dabei aber auch nur ein bisschen zu ändern) - dann geht es wieder von Vorne los.
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