Es gebührt die Höflichkeit, der neuen Regierungschefin eines Nachbarn und Verbündeten zu gratulieren. Und so sandte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen via Twitter Glückwünsche an die neue Premierministerin Liz Truss, aber allzu große Emotionen gab es weder von ihr noch von anderen EU-Offiziellen. Die Stimmung ist schlecht, das Vertrauen nach jahrelangen Streitereien und Dramen völlig zerrüttet. Die EU und das Vereinigte Königreich seien Partner, schrieb von der Leyen immerhin, um dann eine nett verpackte Warnung nachzuschieben: Sie freue sich „auf eine konstruktive Beziehung unter voller Einhaltung unserer Vereinbarungen“.
Könnte Truss einen radikalen Neustart der Beziehungen einleiten? Angesichts ihrer Auftritte in Brüssel als Außenministerin und ihrer Kampfansagen in Richtung EU während des Wahlkampfs betrachten Beobachter das eher als Wunschdenken. „Sie hat ihrer Partei viel versprochen, was nur noch mehr Probleme auf europäischer Ebene schaffen kann“, sagte Fabian Zuleeg, Direktor des European Policy Centre (EPC) in Brüssel.
Liz Truss unterstützt die Abschaffung des Nordirland-Protokolls
Die Britin sieht sich nicht nur in Steuerfragen als Nachfolgerin von Margaret Thatcher, sondern versucht sich auch beim Thema Europa als „Eiserne Lady“ zu profilieren. Dafür nutzt sie zwar nicht die Verhandlungstaktik des „Handbagging“, Thatcher knallte bei Verhandlungen gerne ihre Handtasche auf den Tisch. Doch Truss gehört zu den Architekten eines umstrittenen Gesetzentwurfs zur Abschaffung des so genannten Nordirland-Protokolls, das ein zentraler Bestandteil des Brexit-Abkommens ist. „Dieser einseitige Schritt ist und bleibt zutiefst bedauerlich“, sagte der CDU-Europaabgeordnete und Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, David McAllister, und forderte, dass die neue Regierung „zu Gesprächen über die vollständige Umsetzung des Protokolls bereit sein“ sollte. Danach sieht es derzeit nicht aus.
Truss gab vielmehr mögliche Maßnahmen bekannt, mit denen das Protokoll sofort außer Kraft gesetzt werden könnte, also noch bevor der Gesetzentwurf das parlamentarische Verfahren durchlaufen hat. Brüsseler Beamte schickten als Antwort auf die Provokationen aus London eine Warnung über den Ärmelkanal. Es wäre schwierig für die EU, „sich ernsthaft zu engagieren, wenn eine geladene Waffe auf dem Tisch liegt“, hieß es. Wenn also das Gesetz weiterhin als Damoklesschwert über den Verhandlungen hängt.
EU sieht Handelskrieg als mögliches Szenario
Das Problem für Liz Truss gleicht jenem ihrer konservativen Vorgänger: „Die eigenen Parteimitglieder erwarten, dass eine harte Linie gegenüber Brüssel eingenommen wird“, so EPC-Chef Zuleeg. In EU-Kreisen ist deshalb die Hoffnung gering, dass sich das Verhältnis zwischen Großbritannien und der Union in naher Zukunft entspannen könnte. Zu sehr schiele Truss auf den Applaus der Brexit-Hardliner in ihrer eigenen Partei, als dass sie Kompromisse eingehen würde. Dem CDU-Politiker McAllister zufolge werde die EU konstruktiv daran arbeiten, pragmatische und flexible Lösungen innerhalb des bestehenden Rechtsrahmens zu finden. „Gleichzeitig werden wir unsere eigenen Interessen schützen und die Integrität des Binnenmarktes wahren.“
Liz Truss wies den Vorwurf des einseitigen Vertragsbruchs in Sachen Nordirland stets zurück. Das Protokoll „war nie in Stein gemeißelt“, beschied sie. Dabei war es die britische Regierung unter Boris Johnson, in deren Kabinett auch sie saß, die die Vereinbarung im Rahmen des EU-Austritts ausgehandelt, unterschrieben und gefeiert hat. So wollten die Verhandlungspartner sichtbare Kontrollen an der Grenze zwischen der Republik Irland und der zum Königreich gehörenden Provinz Nordirland verhindern. Die notwendige Zollgrenze wurde in die Irische See verlegt, sodass Warentransporte aus Großbritannien in die Provinz zum Teil kontrolliert werden müssen. Dass London den Deal in der Zwischenzeit für nicht praktikabel erklärt hat, sorgt in Brüssel seit langem für Frust und Ärger. Es gibt keinen Appetit, den mühsam besiegelten Vertrag aufzuschnüren. Im Gegenteil. Die EU schließt sogar einen Handelskrieg nicht aus.
Die Frage sei, so Zuleeg, „inwieweit Liz Truss bereit ist, die Kosten zu tragen, wenn es zu einer Eskalation kommt“. Für das wahrscheinlichste Szenario hält er, dass die neue Premierministerin den Streit mit der EU „weiter verzögern wird“. Alles beim Alten also in der Brexit-Saga – mit Folgen für andere Bereiche, in denen die Staatengemeinschaft und das Königreich im Dialog stehen müssten. Aber es sei laut Zuleeg „schwierig zu sehen, wie man konstruktiv zusammenarbeiten kann, wenn so eine Kernfrage wie Nordirland nicht endlich aus dem Weg geräumt wird“.