Es sind verrückte Zeiten in Großbritannien, in denen sich selbst Experten immer wieder überrascht die Augen über den Verlauf der Ereignisse reiben. Der neu ernannte Finanzminister Jeremy Hunt nahm gestern in einer kurzfristig anberaumten Erklärung nicht nur so gut wie alle Steuererleichterungen zurück, die Premierministerin Liz Truss vor nicht einmal vier Wochen im Rahmen ihres Mini-Budgets angekündigt hatte, er verkürzte auch die Laufzeit des staatlichen Energiepreisdeckels. "Er kann politische Entscheidungen diktieren, wenn er das will", erklärte Jill Rutter von der Denkfabrik Institute for Government gestern gegenüber unserer Redaktion. Dass er so weit gehen würde, damit hatte jedoch kaum einer gerechnet. Hunt verfrachtete "Trussonomics", wie die neoliberalen Wirtschaftspläne der 47-Jährigen genannt werden, in den Müll, schrieb die Daily Mail am Montag.
Die Ankündigung durch Hunt erfolgte nach Wochen voller Chaos. Nachdem die Regierung unter Truss im September Steuersenkungen angekündigt hatte, ohne zu erklären, wie sie diese finanzieren wolle, verloren Investoren das Vertrauen. Das Pfund stürzte ab, die Notenbank musste dreimal eingreifen, um den Wert von Staatsanleihen zu stabilisieren. Die Regierungschefin nahm daraufhin die Steuersenkungen für Besserverdienende zurück.
Am Freitag erfolgte dann eine Kehrtwende in Bezug auf die Unternehmenssteuer. Außerdem musste der Finanzminister Kwasi Kwarteng, ein langjähriger Weggefährte von Truss, seinen Hut nehmen. Ersetzt wurde er durch den konservativen Politiker Jeremy Hunt.
Der neue britische Finanzminister Hunt gilt als langweilig, aber ungefährlich
Doch wer ist der 55-Jährige, der laut Experten nun de-facto das Land regiert? Hunt, der wie viele Parlamentsmitglieder unter anderem Wirtschaft und Politik an der University of Oxford studierte, hat viel Erfahrung als Politiker im Kabinett. Unter Premierminister David Cameron diente er als Kulturminister und Gesundheitsminister, von 2018 bis 2019 war er Außenminister unter Theresa May. Er kandidierte zweimal für das Amt des Premierministers, konnte sich aber nicht durchsetzen. "Er wird insgesamt als moderat und professionell wahrgenommen", erklärte Alan Wager von der Denkfabrik UK in a Changing Europe, "konnte die Menschen aber bislang nie wirklich für sich begeistern".
Das sei laut Wager aber auch ein Grund, warum er jetzt zum Finanzminister ernannt wurde. "Viele teilen den Eindruck, dass er zwar langweilig, dass das Land aber bei ihm in sicheren Händen ist." Rutter machte jedoch auch darauf aufmerksam, dass es in den vergangenen Jahren auch "eigenartige Momente" gegeben habe, die seine Glaubwürdigkeit untergraben hätten. So bezeichnete er Slowenien einmal als ehemaligen Vasallenstaat der Sowjetunion. In China wollte er mit seiner von dort stammenden Frau beeindrucken, sagte aber versehentlich, sie sei aus Japan. Ferner sprach er sich selbst für die Kürzung von Unternehmenssteuern aus. Jene Kürzungen also, die er jetzt zurücknimmt.
Bisher weigert sich Premierministerin Truss, freiwillig zu gehen
Truss gilt mittlerweile als Premierministerin ohne Macht. "Ich glaube einfach nicht, dass es möglich ist, dass sie diese Position weiterhin innehat", sagte die Tory-Abgeordnete Angela Richardson am Montag. Viele konservative Abgeordnete sind sich einig: Sie muss gehen, die Frage ist nur noch, wann. Dass sie freiwillig geht, zeichnete sich bislang nicht ab. Ihr Fokus liege weiterhin darauf, "zu liefern", sagte ein Regierungssprecher gestern auf die Frage, ob Truss Konsequenzen aus ihrem Scheitern ziehen werde. Ferner könnte das Kabinett sie durch Rücktritte zum Auszug aus der Downing Street Nummer 10 zwingen, wie im Fall von Boris Johnson im Juli dieses Jahres. Vor einem Misstrauensvotum jedenfalls ist Truss für die Dauer von einem Jahr geschützt.
Unter den aktuellen Umständen gilt der dreifache Familienvater Hunt laut Wager als aussichtsreicher Nachfolger für Truss. Schließlich werde Rishi Sunak, der sich im Sommer um die Position des Parteichefs bemühte, von vielen Tories immer noch für den Sturz von Boris Johnson verantwortlich gemacht und habe deshalb keine echten Chancen. Eine Rückkehr Johnsons an die Parteispitze hält er ebenfalls für unwahrscheinlich. Dieser habe durch seine von Lügen und Halbwahrheiten geprägte Amtszeit zu viel Schaden angerichtet. Hunt selbst sagte dem britischen Sender Sky News am Montagabend, dass er nicht für das Amt des Parteichefs antreten wolle. Er schließe dies aus, auch wegen seiner Frau und seiner drei Kinder, sagte er.