Boris Johnson mag das Amt in der Downing Street von seiner Vorgängerin Theresa May mit dem Versprechen übernommen haben, ein völlig anderer Premierminister sein zu wollen. Doch einen Teil ihres Vermächtnisses kann der britische Regierungschef nicht abschütteln: Auch jetzt drohen Abgeordnete aus den eigenen konservativen Reihen wieder, wegen des Dauerthemas Brexit zu rebellieren.
Ausgerechnet Theresa May soll die Meuterei anführen
Es ist eine verdrehte Welt in Westminster: Ausgerechnet die Ex-Premierministerin Theresa May soll die Meuterei anführen. Diese Woche attackierte sie während einer Debatte im Unterhaus scharf den umstrittenen Gesetzentwurf zur Gestaltung des britischen Binnenmarkts, mit dem Johnson Teile des bereits ratifizierten Austrittsabkommens mit der EU ändern will. Sollte die Regierung den Plan umsetzen, würde sie – das gab ein Minister sogar zu – internationales Recht brechen und den Streit mit Brüssel bewusst eskalieren lassen. Die Regierung setze „die Integrität des Vereinigten Königreichs“ aufs Spiel, ohne die Konsequenzen für das Ansehen des Landes in der Welt im Blick zu behalten, schimpfte May und warf Johnson „Rücksichtslosigkeit und Unverantwortlichkeit“ vor. Durch den Schritt würde „unsagbarer Schaden für den Ruf Großbritanniens“ entstehen.
Es ist ungewöhnlich, dass die erst vor gut einem Jahr zurückgetretene Premierministerin nicht ihre eigene Regierung unterstützen will. Es ist noch ungewöhnlicher, dass ausgerechnet die kühle May, die weiter als Abgeordnete im Parlament sitzt, ihren Nachfolger angreift. Hier die Frau, die als detailversessen gilt. Dort der Mann, der es mit Details weniger genau nimmt. „Wenn die möglichen Konsequenzen des Austrittsabkommens so schlimm sind, warum hat es die Regierung unterzeichnet?“, fragte sie. May habe vielleicht „die bedeutendste Rede ihrer Karriere“ gehalten, meinte ein Kommentator und verwies auf ihren nach wie vor großen Einfluss in der Partei. Tatsächlich sehen etliche Kollegen im Kreis der Tories in ihr nun die perfekte Rebellionschefin. Nicht nur, dass sie als Ex-Premierministerin keine Karriere-Ambitionen in der Politik mehr verfolgt – und deshalb so etwas wie Narrenfreiheit genießt. Ihre Stimme zählt noch immer unter zahlreichen Konservativen, weil sie den Frieden in Nordirland „sehr ernst nehme“, wie es hieß. Tatsächlich vereinbarte May mit der EU in zähen Verhandlungen einen Austrittsdeal, mit dem das Königreich in der Zollunion verblieben wäre, bis für die ehemalige Bürgerkriegsregion eine andere Lösung gefunden worden wäre.
Joe Biden dämpft die Hoffnungen der Hardliner in London
Dies aber löste eine Rebellion in ihrer Partei aus, die May am Ende ihr Amt kostete. Insbesondere die Hardliner unter den Europaskeptikern wollen raus aus der Zollunion, um eigene Handelsverträge abschließen zu können, etwa mit den USA. Doch diese Pläne sind nach den jüngsten Drohungen, den Deal mit der EU zu untergraben, in Gefahr – insbesondere dann, wenn der Demokrat Joe Biden die US-Präsidentschaftswahlen im November gewinnen sollte. Der Amerikaner hat der britischen Regierung für den Fall seines Erfolgs mit Konsequenzen gedroht, sollte London mehrere Schlüsselregelungen im Brexit-Vertrag zu Nordirland aushebeln. „Wir können nicht zulassen, dass das Karfreitagsabkommen, das Nordirland Frieden gebracht hat, dem Brexit zum Opfer fällt“, twitterte Biden.
Ein künftiges Handelsabkommen zwischen den USA und Großbritannien müsse auf dem Respekt für diese Übereinkunft fußen. Es gelte, die Rückkehr zu einer harten Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Staat Irland zu verhindern.
Erweist sich die Taktik der britischen Regierung, mit der sie Brüssel angeblich zu Konzessionen bringen wollte, nun als Bumerang? Noch immer heißt es hinter den Kulissen, dass Johnson nicht nur einen Deal favorisiert, sondern angesichts der Corona-Krise auch zwingend einen Erfolg bei den Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit der EU braucht.
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