Das Urteil, das der Richter an diesem Donnerstag in Avignon gesprochen hat, war eigentlich nur noch eine Nebensächlichkeit, eine Formalie für die Akten. 20 Jahre. Ist das viel? Ist das wenig, im Vergleich zum Leid, das einer Frau zugefügt worden ist? Die Monstrosität, die von jenen Männern, die über Wochen vor Gericht gestanden hatten wegen der Vergewaltigung von Gisèle Pelicot, ist allein mit juristischen Mitteln ohnehin kaum zu greifen. Viel wichtiger als das letzte Wort der Juristen war das, was Pelicot selbst aus ihrem Fall gemacht hat - und was die Gesellschaft künftig daraus machen wird. Pelicot hat dafür gekämpft, vom Opfer zur Handelnden zu werden. Die Ohnmacht, in die ihr Mann sie mithilfe von Schlafmitteln gezwungen hat, hat sie hinter sich gelassen. Das macht diesen Fall so besonders, das macht Gisèle Pelicot zu einer feministischen Ikone, deren Mut man gar nicht genug würdigen kann. Doch für einen Wandel braucht es mehr.
Die 72-Jährige hat nicht nur ihre eigene Würde zurückerobert, sondern auch die vieler anderer Frauen. Ihr Satz „Die Scham soll die Seiten wechseln“ ist zu einer Parole geworden, die hoffentlich noch lange Bestand haben wird. Nicht Frauen müssen sich schämen, wenn sie zum Objekt männlicher Machtfantasien degradiert werden, sondern die Täter. Wurde die #metoo-Bewegung in der Vergangenheit immer stärker ins Lächerliche gezogen, so ist es Pelicot durch ihr entschlossenes und bodenständiges Auftreten gelungen, wieder die nötige Ernsthaftigkeit in die Debatte zu bringen.
Fall Pelicot: Der Schurke wartet nicht in der dunklen Ecke
Denn eines wurde durch den Prozess deutlich: So monströs die Tat war, so einzigartig auch dieses Schicksal sein mag – die Männer, die die Taten begangen haben, standen nicht am Rand der Gesellschaft, sondern in deren Mitte. Nicht der böse Schurke, der hinter einer dunklen Ecke wartet, ist die wahre Gefahr, sondern eine gesellschaftliche Grundhaltung, die es Männern immer wieder erlaubt, sich über Frauen zu stellen. Für die Vergewaltiger, die im Schlafzimmer der Pelicots ein- und ausgingen, war es völlig normal, vom Ehemann die Erlaubnis zu bekommen, die eigenen Gelüste an dessen Ehefrau auszuleben. Ein Extrem, zugegeben. Doch deutlich wurde leider durchaus, dass der Feminismus noch längst nicht überflüssig ist. Das Ringen darum muss weitergehen – und zwar angeführt von Frauen wie auch von Männern. Denn der Kampf gegen patriarchale Strukturen ist keiner, den Frauen alleine gewinnen können. Es ist kein Gegeneinander, sondern ein Miteinander. Eine Frage des Respekts.
Deshalb wäre es auch fatal, jetzt einen Krieg der Geschlechter auszurufen. Es ist im Sinne der gesamten Gesellschaft, wenn schädliche Machtmechanismen endlich ausgeschaltet werden. Solange Männer dies nicht auch zu ihrem Anliegen machen, sondern sie ignorieren oder im schlimmsten Fall tolerieren, werden sich Missstände nicht ändern. Egal, ob Vergewaltigung, Missbrauch oder „nur“ Herabwürdigung: Es ist das noch immer vorherrschende Machtgefälle, das dies ermöglicht. Es ist dringend notwendig, das Bewusstsein dafür zu schärfen. Nur dann war dieser aufsehenerregende Prozess wirklich ein Erfolg, nur dann wird etwas die kurzfristige Empörung überdauern.
Leider scheint die Welt einen anderen Weg einzuschlagen. Auf die feministischen Erfolge der vergangenen Jahre folgt längst so etwas wie eine Gegenbewegung, die sich unter anderem in den Erfolgen der Rechtsextremisten und -populisten und deren Wunsch nach einem Zurückdrehen der Zeit zeigt. Gisèle Pelicot hat bewiesen, dass es sich lohnt, sich zu wehren, um das vermeintliche Schicksal zu wenden.
Jetzt ist nur die Frage offen, warum das Opfer es 200 Mal nach den Vergewaltigungen nicht mitbekommen hat, dass sie Opfer von schweren Straftaten wurde. Die Gewaltausübungen können niemals spurlos an ihr vorbeigegangen sein. Darüber wurde nie berichtet.
Ja genau, die Opfer von Vergewaltigung sind immer selbst schuld. Wollen Sie das so andeuten?
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