Wenn der Hausarzt Peter Weitkamp über Bürokratie in seinem Berufsalltag spricht, dringt der Ärger in seiner Stimme unüberhörbar durch. "Ich bin Arzt, um Patienten zu behandeln, nicht um irgendwelche Daten abzulegen", klagt der Mediziner. "Das ist doch verrückt. Zwei Arzthelferinnen stelle ich einen Tag pro Woche komplett ab, um irgendwelchen bürokratischen Blödsinn zu machen." Weitkamp hat eine Praxis in Westfalen-Lippe – und er erlebt Tag für Tag, wie die Bürokratie im Gesundheitswesen Ärzte lahmlegt. Er ist längst nicht der einzige.
Vor einem Jahr geriet der nordrhein-westfälische Hausarzt in die Schlagzeilen, weil er eine zweite Praxis eröffnete, in der er allerdings nach Bestimmungen des bundesweiten Zulassungsrechts gar nicht arbeiten durfte. Das ist noch immer so, Weitkamp tut es trotzdem. Weil er einen Kollegen als Angestellten beschäftigen wollte, untersagt die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe das Modell. Dass diese damit nur geltendes Bundesrecht umsetzt, weiß auch Weitkamp.
Doch für ihn ist das nur ein kleines Beispiel im "Bürokratiedschungel" – und das Problem ein viel größeres. "Die medizinische Versorgung steht vor dem Kollaps – und uns werden Steine in den Weg gelegt. Wir müssen davon wegkommen, dass wir uns an sinnlose Gesetze halten." Wenn deswegen ärztliche Versorgung verhindert werde, sei das eindeutig ein Fehler im System. "Und so werden wir gegen die Wand fahren."
Praxen fürchten bürokratischen Kollaps
Das sieht auch die Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe so. "Die Praxen stehen vor dem Kollaps", berichtet ihr Pressesprecher Daniel Müller auf Anfrage unserer Redaktion. Gleichzeitig müsste jede Praxis statistisch pro Jahr 60 Arbeitstage für Bürokratie aufwenden – unter dem Strich sind das fast drei Monate im Jahr. Die Praxen der Niedergelassenen würden in Bürokratie ersticken, erhielten zu wenig Geld und seien mit "nicht ausgereiften Digitalisierungspflichten gelähmt".
Im Krankenhausbereich sieht es nicht besser aus. Wie aus einer Befragung des Berufsverbands "Marburger Bund" hervorgeht, wenden angestellte Ärzte derzeit im Mittel drei Stunden pro Tag für Verwaltungstätigkeiten auf. Bei einem Drittel sind es sogar mindestens vier Stunden Aufwand für Bürokratie täglich. Seitenweise Papierkram wartet auf die Ärzte außerhalb der Patientenzimmer: Diagnosen und Prozeduren aufschreiben, zeitaufwendige Arztbriefe verfassen und viele Bögen zur Dokumentation und rechtlichen Absicherung ausfüllen. Gleiches gilt für die Pflege, die durchschnittlich 42 Prozent ihrer Arbeitszeit für Bürokratie aufwendet, meldet das Marktforschungsinstitut Schlesinger.
"Nicht mehr nachvollziehbare Bürokratie" und immer neue Regulierungen würden den Beschäftigten in den Krankenhäusern täglich zu schaffen machen, heißt es in der "Initiative zum Bürokratieabbau" der Bundesärztekammer. Dabei handele es sich zu einem großen Teil um Bürokratie, die lediglich ein Ausdruck von Kontroll- und Misstrauensbürokratie sei. "In Zeiten des Fachkräftemangels können wir uns diese Verschwendung von Arbeitskraft, die dringend im OP und am Krankenbett gebraucht wird, nicht mehr leisten."
Ein Entlastungsgesetz für die Medizin soll kommen
Was ist zu tun? FDP-Politiker Andrew Ullmann, selbst Facharzt für Innere Medizin und Professor an der Uni Würzburg, will in der Politik ansetzen. Er selbst habe die Dokumentationspflicht und die komplizierten Abrechnungsregelungen in seiner Zeit als Arzt im Krankenhaus als "überbordend" erlebt. "Wir hatten kaum Zeit, uns zwischen Ärzten, Patienten und Pflegepersonal auszutauschen", sagt der Bundestagsabgeordnete.
Es sei dringend notwendig, das System zu verändern. Versucht wird das schon, etwa durch das sogenannte "Vierte Bürokratieentlastungsgesetz", das Bundesjustizminister Marco Buschmann im März vorgelegt hatte. Es sieht unter anderem verkürzte Aufbewahrungsfristen und einfachere Regeln für offizielle Papiere vor. Für das Gesundheitswesen sieht FDP-Experte Ullmann darin bislang keine Entlastungen. Allerdings habe Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nun bestätigt, dass ein eigenes Entlastungsgesetz für das Gesundheitswesen kommen werde. Ullmann erhofft sich deutliche Verbesserungen in Verwaltung, Klinik und Praxis davon. "Ganz ohne Bürokratie geht es nie. Aber wir müssen sie sinnvoll reduzieren."
Um Bürokratieabbau zu erreichen, fordert die Kassenärztliche Bundesvereinigung, verschiedene Verfahren zu verschlanken und Vorgaben zu vereinfachen. Formulare könnten digitalisiert und vereinheitlicht, Atteste bei kurzer Krankheitsdauer gestrichen werden. "Die Herausforderung ist: Wie viel Bürokratie ist nötig, damit etwa die Abrechnungen korrekt sind und doch gerade die wichtigen Aufgaben in der Pflege und Betreuung nicht hinten herunterfallen", erklärt FDP-Politiker Ullmann.
Kassenärzte: Ein "Weiter so" kann es nicht geben
Allen Beteiligten ist klar, dass etwas passieren muss. "Ein 'Weiter so' kann es vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Rahmenbedingungen nicht mehr geben", sagt Sprecher Müller von der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Die flächendeckende, wohnortnahe und qualitativ hochwertige ambulante Versorgung in Deutschland stehe auf dem Spiel. Vor allem im ländlichen Raum sei die Versorgung gefährdet, da junge Ärztinnen und Ärzte sich kaum mehr für eigene Praxen entscheiden würden.
Hausarzt Weitkamp kann das gut verstehen. Es sei für einen jungen Arzt durch die bürokratischen Hürden kaum noch möglich, eine eigene Praxis zu gründen. Er verweist auf das Modell der "Praxismacher" im Kreis Herford: Dort können bereits vollständig ausgebildete Fachärzte ein Jahr lang in einer Praxis mitmachen. "Ziel ist es, dass Sie nach Ablauf der zwölf Monate fit sind, als Hausarzt in einer (eigenen) Praxis im Kreis Herford zu arbeiten", wirbt das Programm um medizinischen Nachwuchs. Darüber kann Weitkamp nur müde lachen. "Die Elite unseres Landes ist nicht mehr in der Lage, eine Arztpraxis selbstständig zu führen", sagt er. "Was sagt das über unser Gesundheitssystem aus?"