Wenn Peter Liese derzeit über den Mangel an Medikamenten redet – und das tut er angesichts der angespannten Lage ausgesprochen oft –, dann erzählt der Arzt gerne von seiner Erfahrung im letzten Winter. Da erlebte er in einer Paderborner Klinik Kinder, die nur deshalb für mehrere Tage stationär im Krankenhaus behandelt wurden, weil der Antibiotika-Saft ausgegangen war. Stattdessen erhielten sie dann eine Infusionstherapie. Seitdem ist Liese wieder vor allem als CDU-Europaabgeordneter tätig, der Mangel an bestimmten Medikamenten treibt ihn aber weiter um – genauso wie Eltern, Patienten und Ärzte in Deutschland und anderen EU-Staaten. Doch zügige und vor allem langfristige Lösungen scheinen nicht in Sicht.
Auch beim zweitägigen informellen Treffen der 27 EU-Gesundheitsminister in Stockholm, das am Donnerstag begann, zeichnete sich kein gesamteuropäischer Kompromiss ab. Die Zusammenkunft finde zu einer Zeit statt, „in der der Druck groß ist“, sagte zwar Acko Ankarberg Johansson, die Gesundheitsministerin Schwedens, das derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat. Aber ist er groß genug?
Medikamentemangel: Mächtige Länder wehren sich, nationale Kompetenzen abzugeben
Insbesondere die mächtigen EU-Länder wehren sich traditionell dagegen, nationale Kompetenzen aus der Hand zu geben. „Die Mitgliedstaaten treten immer auf die Bremse“, kritisiert Liese, darunter Deutschland. Hier erlauben nun immer mehr Bundesländer die Einfuhr antibiotischer Säfte auch ohne deutsche Zulassung. „Wir müssen handeln, sonst gehen wir sehenden Auges in eine sich verschärfende Notlage hinein“, sagte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). „Da die Preise in Deutschland durch die bestehenden Regeln besonders niedrig gewesen sind, haben wir noch weniger Lagerbestände als andere Länder, wo die Preise höher waren“, so Lauterbach.
Bleiben nun aber andere europäische Staaten auf der Strecke, wie Kritiker mahnen? Auch wenn in der Bundesrepublik jetzt mehr bezahlt werde, wirft Liese ein, „ist in Europa ja nicht mehr Fiebersaft vorhanden“. Er sieht das Problem im Kostendruck auf die verordnenden Ärzte wie auch auf die Firmen durch die Krankenkassen. „Wir haben in den letzten Jahren zugelassen, dass man nur auf den Preis geschaut hat.“ Die Folge: Es ging nicht mehr um die Verfügbarkeit.
Das Problem der Engpässe betrifft jedoch die ganze EU, wenn auch in unterschiedlicher Art und Dringlichkeit. So fehlen nicht nur Fiebersäfte und Antibiotika, auch Blutfettsenker, Blutdruckmittel und sogar Krebsmedikamente sind vielerorts Mangelware. Vergangene Woche hatte die EU-Kommission ein Paket vorgelegt, das die 20 Jahre alte Pharma-Gesetzgebung reformieren soll.
Doch jenes Thema, das die Deutschen derzeit am meisten umtreibt und betrübt, ist darin nur „ein Nebenkriegsschauplatz“, wie Liese beklagt. Er bezeichnet die Form der Ausschreibungen als entscheidend. Diese müssten so angelegt werden, dass die Produktion in der EU und in anderen sicheren Staaten wie in der Schweiz honoriert wird, Stichwort Zuverlässigkeit. „Es muss nicht in Indien oder China sein.“
Lieferengpässe bei Medikamenten: EU-Kinderärzte haben einen Brandbrief verfasst
Die Brüsseler Behörde fokussiert sich bei ihrem Vorschlag weniger auf die Verfügbarkeit von günstigen Arzneimitteln, bei denen der Patentschutz bereits abgelaufen ist, sondern verfolgt das Ziel, die Entwicklung neuer Präparate anzukurbeln und die heimische Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Konkret plant die Kommission, eine Liste besonders wichtiger Präparate einzuführen. Schwachstellen in den Lieferketten dieser Medikamente sollen angegangen werden. Der Plan sieht zudem vor, Unternehmen dazu zu verpflichten, Versorgungslücken und den Rückruf von Medikamenten früher zu melden und Vorsorgepläne zu erstellen.
Die Lage in Praxen und Krankenhäusern wird seit Monaten teils als dramatisch beschrieben. Erst am vergangenen Wochenende schlugen Kinderärzte aus Deutschland, Frankreich, Südtirol, Österreich und der Schweiz Alarm. In einem Brandbrief warnen sie, dass die „Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen durch den Medikamentenmangel europaweit gefährdet“ sei.
Auf der Seite des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, auf der Lieferengpässe gemeldet werden können, sind 476 Mittel aufgelistet. Als Reaktion hatte das Bundeskabinett Anfang April das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz beschlossen, was aber noch durch Bundestag und Bundesrat muss. Lauterbach drängt deshalb zur Eile. Die Regelung soll unter anderem Herstellern ermöglichen, höhere Abgabepreise für Kindermedikamente in Deutschland zu verlangen, sodass sich Lieferungen nach Deutschland mehr lohnen.