Es passiert fast jeden Tag irgendwo in Deutschland: ein Mensch geht zum Arzt, wird behandelt, und anschließend stimmt irgendetwas nicht mehr. Die während der OP im Körper vergessene Schere kommt vor, ist aber ein Einzelfall. Andere Behandlungsfehler wie übersehene Brüche, beschädigte Nerven oder Schäden an der Augenlinse hingegen gehen in die Tausende.
Rund 14.000 entsprechende Gutachten erstellte der Medizinischen Dienst der Krankenversicherung 2020 bundesweit. In 25 Prozent der Fälle kamen sie zu dem Schluss, dass ein Behandlungsfehler vorliegt. Experten vermuten, dass die Dunkelziffer höher ist, weil sich viele Patientinnen und Patienten nicht trauen, gegen einen Behandlungsfehler vorzugehen. Was auch am komplizierten Patientenrecht liegt, wie der Sozialverband Deutschland (SoVD) beklagt. Er hat ein Gutachten mit Verbesserungsvorschlägen vorgelegt und fordert die Regierung zur Umsetzung auf.
„Nach wie vor gibt es Schwierigkeiten bei der Durchsetzung der sanktionslosen Patientenrechte und bei der Aufklärung des Behandlungsgeschehens“, sagte SoVD-Präsident Adolf Bauer bei der Vorstellung des Gutachtens am Dienstag in Berlin. Zwar trat im Februar 2013 das Patientenrechtegesetz in Kraft, die von der Regierung erhofften Verbesserungen blieben jedoch teilweise aus. Der Medizinrechtsexperte Thomas Gutmann von der Uni Münster, er hat das Gutachten geschrieben, fasste die Lage so zusammen: „Das Gesetz ist in vielerlei Hinsicht ein gutes Gesetz. Es hat nur einige Macken, die korrigiert werden müssen.“
Beweislast ist ungleich verteilt
Der Jurist und CSU-Rechtsexperte Volker Ullrich bestätigt diese Feststellung. Aus seiner Arbeit als Bundestagsabgeordneter kenne er die Fälle, in denen sich Patienten „oftmals mit Beweisschwierigkeiten und umfangreichen Sachverhaltsermittlungen konfrontiert sehen“. Der Forderung nach Änderungen bei der Beweisführung, die Gutmann und der SoVD in ihrem Gutachten erheben, stimmt Ullrich zu. Regierung und Fraktionen müssten gemeinsam prüfen, wie die Situation der Patientinnen und Patienten grundsätzlich verbessert werden könne. „Das ist keine Debatte, die man einer parteipolitischen Polarisierung anheimstellen sollte. Das muss gemeinsam getragen werden“, sagte Ullrich.
Das Nachjustieren an ein paar Stellschrauben würde dem Gutachten zufolge ausreichen, um aus dem im internationalen Vergleich gar nicht so schlechten deutschen Patientenrecht eines der besten zu machen, wie Gutmann erklärte. Der Jurist fordert dazu auf, die Beweislast vom Patienten zu nehmen. Denn wenn etwas schiefgelaufen ist, muss aktuell der Patient beweisen, dass die Ärztin einen Fehler gemacht hat, wie Gutmann erklärte. Er müsse zudem darlegen, dass der Fehler tatsächlich auch zu dem Schaden geführt habe. Was schwierig sei. Klagen würden deshalb oft selbst dann abgewiesen, wenn ein Fehler als solcher nachgewiesen wurde. Der Gesetzgeber sollte es deshalb den Gerichten ermöglichen, einen Haftungsanspruch schon dann anzuerkennen, wenn die Fallhergang „nur überwiegend wahrscheinlich“ sei.
Ärzte sollen informieren
In seinem Gutachten hat Gutmann insgesamt 16 Verbesserungsvorschläge gemacht. Dabei geht es unter anderem auch um die Einsicht in die Patientenakte. Per Gesetz ist sie vorgeschrieben, in der Praxis hapert es jedoch, hat der Professor festgestellt. Der oder die Behandelnde sollte deshalb verpflichtet werden, die Vollständigkeit der Unterlagen zu bestätigen. Ärztinnen und Ärzte sollten zudem von sich aus informieren müssen, wenn die Möglichkeit eines Behandlungsfehler bestehe. Bislang gibt es diese Mitteilungspflicht nur, wenn die Patientin nachfragt. Eine weitere Forderung: Den Krankenkassen soll es in Zukunft gestattet werden, bei Anhaltspunkten für einen Fehler von sich aus auf die Versicherten zuzugehen. Die Kassen müssten außerdem verpflichtet werden, den Patienten dann auch zu unterstützen. Bislang gebe es hier lediglich eine Soll-Bestimmung.
SoVD-Präsident Bauer forderte, die Patientenrechte müssten endlich „scharf gestellt“ werden und Verstöße zu „spürbaren Folgen“ für die Verursacher führen. Dies gelte „erst recht, wenn entscheidende Beweise erkennbar verschwiegen oder vorenthalten wurden.“ Bauer forderte die Ampel-Koalition auf, eine Reform des Patientenrechtegesetzes in Gang zu bringen und gleichzeitig im Rahmen einer bundesweit angelegten Kampagne Betroffene über ihre Rechte aufzuklären.
Härtefallfonds darf nur Ergänzung sein
Den von SPD, Grünen und FDP im Koalitionsvertrag genannten „Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen“ bezeichnete Bauer als durchaus sinnvoll. „Noch besser wäre es aber, ein solcher Härtefallfonds wäre überflüssig“, ergänzte er. Dies wäre der Fall, wenn die Patientenrechte im Behandlungsverhältnis und im Arzthaftungsprozess gestärkt würden.
Gutmann stellt in seinem Gutachten fest, dass die Einrichtung eines solchen Fonds, wie es ihn etwa in Österreich bereits gibt, 2012 im deutschen Gesetzgebungsverfahren zurückgewiesen wurde. Er beziffert das Volumen auf geschätzt 60 Millionen Euro pro Jahr und verweist darauf, dass ein Fonds als Ergänzung des zu reformierenden Individualhaftungsrechts sinnvoll sei. Eine Ersetzung der Arzthaftung durch einen Entschädigungsfonds nach Art einer Patientenversicherung werde in Expertenkreisen hingegen abgelehnt. Die Deckelung der Ansprüche sei für die Patienten „in aller Regel von Nachteil“.