Patientinnen und Patienten sollen in Hausarztpraxen künftig seltener auf überfüllte Wartezimmer und Aufnahmestopps stoßen. So sollen Hausärztinnen und Hausärzte nach Plänen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach mehr finanzielle Freiräume bekommen, um Engpässe in Praxen zu vermeiden.
"Wir sind am Vorabend einer sehr großen Reform", sagte der SPD-Politiker nach einem Gespräch mit Vertretern von niedergelassenen Medizinern und Krankenkassen in Berlin. "Wir wollen auch die Hausarztpraxen entökonomisieren." Am entsprechenden Versorgungsgesetz arbeite sein Haus seit Monaten. Im Januar solle es öffentlich gemacht werden.
Wegfall von Honorar-Obergrenzen
"Wir werden bei den Hausärzten eine Entbudgetierung vornehmen", kündigte Lauterbach an. Die Ampel-Koalition hatte den Schritt bereits im Koalitionsvertrag angekündigt. Im vergangenen Jahr war der Honorar-Deckel bereits bei den Kinderärzten aufgehoben worden.
Bisher ist das Geld, das Ärztinnen und Ärzte für die Behandlung gesetzlich Versicherter erhalten, nach oben begrenzt. Diese Budgets sollen verhindern, dass die Kosten aus dem Ruder laufen. Der Vorsitzende des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Markus Beier, hatte kritisiert, Hausarztpraxen würden nicht immer für alle Leistungen bezahlt. Ärzteverbände wie der Virchowbund hatten beklagt, dass es wegen der Budgets wirtschaftlich oft keinen Sinn mache, neue Patienten aufzunehmen.
Der Wegfall der Budget-Grenzen für Hausärzte dürfte Mehrausgaben im dreistelligen Millionenbereich für die Kassen bedeuten, machte Lauterbach deutlich. Dies werde aber langfristig zu einer Kostenstabilisierung und einer deutlich besseren Versorgung in einem effizienteren System führen.
Chronisch Kranke sollen seltener in Praxis müssen
"Wir verabschieden uns von der Quartalspauschale", kündigte Lauterbach weiter an. Heute gelten die Abrechnungen der Arztpraxen für Patientinnen und Patienten für ein Vierteljahr. Künftig soll es bei Hausärzten eine jährliche Versorgungspauschale für erwachsene Patienten mit chronischen Erkrankungen und kontinuierlichem Bedarf an Arzneimitteln geben. Sie soll beim ersten Arzt-Patienten-Kontakt fällig werden - unabhängig von weiteren Arztbesuchen. Patientinnen und Patienten sollen nicht mehr nur wegen eines Rezepts einbestellt werden, einfach damit eine neue Quartalspauschale fällig wird. Unterm Strich soll so mehr Zeit für medizinische Behandlungen bleiben.
Förderung von Hausbesuchen und Hitzeberatung
Neu eingeführt werden soll eine sogenannte Vorhaltepauschale für Praxen, die maßgeblich die hausärtzliche Versorgung aufrecht erhalten. Kriterien sollen sein, dass diese Praxen Hausbesuche durchführen und eine Mindestzahl an Versicherten in Behandlung haben.
Einmal pro Jahr sollen Hausärzte eine besondere Vergütung erhalten, wenn sie besonders betroffene Gruppen wie Senioren und chronisch Kranke Beratung bei großer Hitze geben. Das soll dazu beitragen, die Zahl der Hitzetoten in Deutschland weiter zu senken. Laut Robert Koch-Institut starben im vergangenen Jahr 3200 Menschen infolge von Hitze, im Vorjahr waren es 4500 Menschen.
Telefonisch zu Rezept und Krankschreibung
Lauterbach sagte bereits im ZDF-Morgenmagazin: "Bisher sind die Praxen überfüllt, weil viele Patienten in die Praxis kommen, um ein Rezept verlängern zu lassen oder eine Krankschreibung zu bekommen." Nach dem Krisentreffen mit der Ärzteschaft betonte er: "Das kann dann alles telefonisch gemacht werden." So würden künftig viel weniger Patienten aus diesen Gründen die Praxen füllen.
Seit Jahresbeginn müssen niedergelassene Ärztinnen und Ärzte für verschreibungspflichtige Arzneimittel Rezepte elektronisch ausstellen - die Apotheke wird beim Einstecken der Gesundheitskarte in ein Lesegerät autorisiert, es von dort abzurufen. Lauterbach räumten einige Startschwierigkeiten ein und sagte: "Es wird ein paar Wochen dauern, bis es sich eingeruckelt hat." Bei Krankschreibungen sind bereits seit Anfang 2023 Ausdrucke auch für Arbeitgeber nicht mehr nötig - die Bescheinigungen werden elektronisch direkt bei den Krankenkassen der Beschäftigten abgerufen. Laut Krankenkassen-Verband haben Arbeitgebende 2023 knapp 82 Millionen solche Bescheinigungen elektronisch abgerufen.
Weitere Verbesserungen für die Praxen
"Wir werden auch viel mehr Telemedizin zulassen", kündigte Lauterbach an. Ärzte sollen auch im Homeoffice arbeiten können. Grundsätzlich reicht Telemedizin vom Video-Telefonat bis zu Messgeräten bei den Patienten, auf die der Arzt oder die Ärztin Zugriff hat.
"Eine Qual für viele Praxen" sind laut Lauterbach auch drohende Regresse bei zu viel verschriebenen Medikamente. Denn die Mediziner werden hierbei kontrolliert und müssen sich vor den Krankenkassen und der Kassenärztlichen Vereinigung rechtfertigen, wenn sie mehr Medikamente verschrieben haben als vorgesehen - es drohen Strafen in Höhe von Tausenden Euro. Nun sollen Bagatellgrenzen eingeführt werden, bis zu denen keine Wirtschaftlichkeitsprüfung stattfinden soll. 80 Prozent der Regress-Fälle würden künftig wegfallen.
Entbürokratisiert und beschleunigt werden sollen Antragsverfahren für ambulante Psychotherapie.
Ende der Proteste?
Längerfristig soll die Reform die Arbeit als Hausarzt oder -ärztin auch wieder für mehr junge Medizinstudierende attraktiv machen. Heute fehlen laut Hausärzteverband 5000 Hausärzte. Lauterbach räumte ein, dass es genug Ärzte geben müsse - dafür brauche es mehr Medizinstudierende. Er kündigte einen Vorschlag an, nachdem ihre Zahl um 5000 erhöht werden solle.
Der Chef des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Beier, lobte Lauterbachs Pläne als "richtig und wichtig". Auch der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, begrüßte das Vorhaben im Grundsatz. Allerdings will Lauterbach den Honorardeckel nicht bei bei den weiteren Facharzt-Gruppen aufheben. Prompt kündigte der Vorsitzende des Virchowbunds, Dirk Heinrich, weitere Proteste an. "Mit dem heutigen Gesprächsergebnis sind wir jedenfalls völlig unzufrieden", teilte er mit. Die Wut an der Basis steige. "Daher ist für uns klar, dass die Proteste weitergehen müssen, wenn nicht die gesamte ambulante Versorgung durch Haus- und Fachärzte in den Blick genommen wird." Damit könnten Patienten auch vor weiteren Praxisschließungen bei Fachärzten nicht verschont sein.
Bereits zwischen den Jahren und an einem Brückentag im Oktober waren viele Arztpraxen aus Protest geschlossen geblieben. Die Vorständin des GKV-Spitzenverbandes, Stefanie Stoff-Ahnis, mahnte: "Es darf sich keinesfalls wiederholen, dass Ärzteverbände ihren Protest auf dem Rücken der Patientinnen und Patienten austragen."
(Von Basil Wegener, Sascha Meyer und Valeria Nickel, dpa)