Die Ukraine erfüllt die Voraussetzungen für EU-Beitrittsverhandlungen laut EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen fast vollständig. "Sie haben bereits deutlich über 90 Prozent des Wegs hinter sich", sagte von der Leyen bei einem Besuch in Kiew in einer Rede vor dem ukrainischen Parlament Rada. Es seien bereits viel größere Fortschritte gemacht worden, als von einem Land im Krieg erwartet werden könnten.
"Sie führen einen existenziellen Krieg, und gleichzeitig sind Sie dabei, Ihr Land tiefgreifend zu reformieren", sagte von der Leyen auch nach einem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Ukraine habe viele Etappenziele erreicht. Von der Leyen nannte die Reform des Justizsystems, die Eindämmung des Einflusses der Oligarchen und die Bekämpfung der Geldwäsche. "Dies ist das Ergebnis harter Arbeit, und ich weiß, dass Sie dabei sind, die noch ausstehenden Reformen zu vollenden."
Sechster Besuch in der Ukraine seit russischer Invasion
Die Kommissionspräsidentin war am Morgen zu ihrem sechsten Besuch in der Ukraine seit dem russischen Angriff vor gut 20 Monaten eingetroffen. Am kommenden Mittwoch legt sie in Brüssel den Bericht zu den Reformfortschritten der Ukraine vor. Auf dieser Grundlage wollen dann im Dezember die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union entscheiden, ob die Beitrittsverhandlungen mit der Regierung in Kiew gestartet werden sollen. Die EU hatte die Ukraine schon im vergangenen Jahr wenige Monate nach der russischen Invasion zum Beitrittskandidaten gemacht.
Selenskyj spricht von "historischem Moment"
Selenskyj sagte mit Blick auf die Beitrittsverhandlungen, der Besuch finde in einem "historischen Moment" statt. "Diese Entscheidung wird nicht nur für die Ukraine, sondern auch für ganz Europa eine Schlüsselrolle in der Geschichte spielen." Der ukrainische Präsident hatte von der Leyen bereits am Bahnhof begrüßt, was bei solchen Besuchen eher ungewöhnlich ist. Gemeinsam zeichneten sie anschließend Mitarbeiter der Bahn mit Medaillen aus.
Schon auf dem Weg nach Kiew sagte die EU-Kommissionspräsidentin vor Journalisten, sie wolle der von Russland angegriffenen Ukraine versichern, "dass wir fest an ihrer Seite stehen" und ihr "Ermutigung und Zuspruch" bringen. Die Kommissionspräsidentin und frühere Bundesverteidigungsministerin wies aber auch auf die Gefahren der Reise hin. "Immer wenn ich die Ukraine fahre, ist da ein gewisses Gefühl der Anspannung natürlich, weil es Kriegsgebiet ist." Von der Leyen fuhr wie immer mit einem Sonderzug von Polen nach Kiew. Flüge über das Gebiet der Ukraine sind weiterhin nicht möglich.
Seit vergangenem Sommer EU-Beitrittskandidat
Den Beginn der Beitrittsverhandlungen müssen die 27 EU-Staaten einstimmig beschließen. Ein positives Votum soll es dann geben, wenn die Ukraine sieben Voraussetzungen erfüllt hat. Aus Kommissionskreisen hieß es zuletzt, dass die Ukraine sehr große Fortschritte gemacht habe, es aber vermutlich noch nicht möglich sein werde, alle sieben Voraussetzungen uneingeschränkt als erfüllt zu beurteilen. Voraussichtlich werde den EU-Staaten deswegen empfohlen, den Start der Beitrittsverhandlungen zu beschließen, den ersten Verhandlungstermin aber erst nach Erfüllung aller Reformauflagen festzulegen.
Damit würde die EU-Kommission auch all denjenigen EU-Staaten entgegenkommen, die der Ansicht sind, dass Fortschritte im EU-Beitrittsprozess komplett leistungsbezogen sein sollten. Sie argumentieren, dass es vor allem in den Beitrittskandidatenländern auf dem Westbalkan zu großer Frustration kommen könnte, wenn nun aus politischen Gründen von dem auf dem Reformfortschritten basierenden Ansatz abgewichen wird.
Ihnen gegenüber stehen vor allem mittel- und osteuropäische Staaten, die den Start der Verhandlungen als notwendige geopolitische Investition sehen und argumentieren, dass die Hoffnung auf einen EU-Beitritt auch ein Motivationsfaktor im Kampf gegen die russischen Angreifer sei.
Reformen sollen Erweiterung ermöglichen
Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme von großen Ländern wie der Ukraine nur dann zu einem Erfolg werden kann, wenn es zuvor interne Reformen gab. Die Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik sind beispielsweise schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil in der Regel das Einstimmigkeitsprinzip gilt.
(Von Michael Fischer, Marek Majewski, Ulf Mauder, Andreas Stein und Ansgar Haase, dpa)