Worte der Hoffnung in Zeiten der Krise: Was die Älteren uns zu sagen haben

Von Viktoria Gerg, Margit Hufnagel, Simon Kaminski, Franziska Kollmann, Katja Neitemeier, Theresa Osterried, Stefanie Wirsching
10.12.2022

Wir leben in einer Zeit der multiplen Krisen. Die Älteren wissen, was das bedeutet. Sie erzählen, wie sie auf die Gegenwart schauen – und was ihnen Zuversicht gibt.

Pater Anselm Grün, 77, Benediktinerpater

Foto: Julia Martin, Abtei Münsterschwarzach


Pater Anselm Grün: Die Hoffnung gibt mir die Kraft.

Die Frage „Was gibt mir in diesen Tagen Hoffnung und Kraft?“, würde ich anders stellen: Wie reagiere ich auf die Verteuerung des Lebens, auf den Klimawandel, auf den Krieg in der Ukraine, wenn ich Hoffnung habe? Die Hoffnung – so sagen die Theologen – ist eine göttliche Tugend, also eine Tugend, die mir Gott schenkt, aber auch eine Tugend, die ich in mir stärken soll. Mir gibt der Glaube Hoffnung, dass ich nicht der Hand der Mächtigen ausgeliefert bin, sondern von Gottes guten Händen gehalten bin. Die Hoffnung befreit mich von der Opferrolle, in die mich die Ohnmacht treibt.

Denn Gott selbst steigt hinab in das Chaos unserer Welt. Für mich ist Weihnachten ein Fest der Hoffnung. Mitten in der Dunkelheit und Aussichtslosigkeit leuchtet in dem Kind in der Krippe ein Licht auf, das gegen das Scheinwerferlicht der Mächtigen keine Chance zu haben scheint, das aber doch meine Dunkelheit erhellt, meine Angst in Vertrauen wandelt und meine Ohnmacht in eine neue Kraft und Kreativität hinein führt. „Dum spiro spero“, sagen die Lateiner: „Solange ich atme, hoffe ich.“ Die Hoffnung gibt mir die Kraft, in dieser hoffnungsarmen Zeit zuversichtlich zu leben.
Pater Anselm Grün, 77, Benediktinerpater, Autor, Münsterschwarzach

Renate Schmidt, 78, ehemalige Bundesfamilienministerin

Foto: Imago

Renate Schmidt: Die nächste Generation kann es schaffen

An eine Lage wie die derzeitige kann ich mich nicht erinnern. Zwar war meine Angst, dass ein Krieg ausbrechen könnte, 1962 bei der Kuba-Krise groß, und ich habe damals überlegt, ob wir –mein Mann, meine kleine Tochter und ich – nach Schweden auswandern sollen, aber diese Krise war nach 14 Tagen ausgestanden. Bei mir liegt seit Ausbruch des Ukraine Kriegs so etwas wie Mehltau auf meiner Seele. Natürlich frage ich mich, wieso mir das bei den genauso entsetzlichen Kriegen in Syrien und dem viel näheren auf dem Balkan Anfang der 90er nicht genauso nahe ging.

Vielleicht liegt es daran, dass ich mir zwar nicht um mich mit meinen bald 80 Jahren Sorgen mache, aber um meine Kinder, Enkel und Urenkel. Der bislang unvorstellbare Einsatz von Atomwaffen rückt ebenso wie ein Blackout in den Bereich des Möglichen. Die Klimakrise rutscht auf der Tagesordnung immer weiter nach hinten und da bringt Auswandern gar nichts. Ausbaden im wahrsten Sinne des Wortes müssen es meine, unsere Nachkommen. Mein Ziel als Politikerin (und Mutter), meinen Kindern die Welt ein bisschen besser zu hinterlassen als ich sie vorgefunden habe, habe ich wohl verfehlt. Für mich als überzeugter Pazifistin kommt zu dieser „Mehltauhaftigkeit“ noch hinzu, dass Pazifismus zum Schimpfwort verkommen ist und Aufrüstung angeblich für den Frieden unerlässlich. Also alles Mist? Nein, wenn ich mir diese (über-)nächste Generation anhöre, die darüber diskutiert, wie sie anders leben kann, ohne alles zu zerstören, dann habe ich große Hoffnung, dass sie es schaffen. Und ansonsten hilft mir, mir jeden Tag zu überlegen, was er trotz aller Weltprobleme Schönes gebracht hat und mir hilft auch, häufiger als sonst zu beten, vor allem für die Kinder, nicht nur für meine.
Renate Schmidt, 78, ehemalige Bundesfamilienministerin, Nürnberg

Theo Waigel, 83, ehemaliger Bundesfinanzminister

Foto: Ralf Lienert


Theo Waigel: Unsere Zeit gibt auch Zeichen der Hoffnung

In meinem über 80-jährigen Leben habe ich Angst, Hoffnung, Enttäuschungen und politische Glücksmomente erlebt. Ein evangelischer Theologe erwähnte angesichts der sowjetischen Raketenüberlegenheit und der Notwendigkeit des Nato-Doppelbeschlusses den Bibelsatz: In der Welt habt ihr Angst, doch seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Dieser tröstliche Bibelspruch hat mich in all den Krisen begleitet, die ich in den letzten Jahrzehnten erlebte. Der Ewige Friede, wie ihn Immanuel Kant in seinem Traktat beschreibt, schien im Jahr 1990 seine Erfüllung gefunden zu haben. Als ich im Jahr 1994 auf dem Ölberg in Jerusalem den jordanischen König am Steuer seiner Maschine über der Stadt kreisen sah, eskortiert von israelischen Jägern, im Telefongespräch mit dem israelischen Premierminister Rabin, hoffte ich auf den Frieden auch im Heiligen Land. Beides hat getrogen.

Der Friedensnobelpreisträger Michal Gorbatschow im Jahr 1990 wurde schon ein Jahr später der Macht enthoben. Die Friedensnobelpreisträger Rabin, Peres und Arafat des Jahres 1994 konnten keinen dauerhaften Frieden schaffen. Jassir Arafat schenkte mir in Bonn anlässlich einer Begegnung eine Krippe aus Bethlehem. An Weihnachten erinnert sie mich an die Hoffnung auf Frieden, die immer wieder enttäuscht wird.

In Russland herrscht wieder ein politischer Dämon, der Krieg zum Mittel seiner Ziele macht und vor kriegerischen Verbrechen nicht zurückscheut. Geschichte wiederholt sich nicht, doch ähnliche Fehler werden wieder gemacht. 1938 glaubten die europäischen Demokratien, Adolf Hitler zufriedenzustellen, als man ihm die Okkupation Österreichs und der Tschechoslowakei kampflos gewährte. Das führte nicht zur Befriedung, sondern zum schrecklichen Weltkrieg nur ein Jahr später. Als 2008 Deutschland und Frankreich auf Putin Rücksicht nahmen und der Nato-Beitritt der Ukraine nicht vollzogen wurde, führte dies bei Putin nicht zu Dank und Zufriedenheit, sondern nur zu einem höhnischen Lächeln. Doch unsere Zeit gibt auch Zeichen der Hoffnung. Die Menschen in der Ukraine führen einen bewundernswerten Kampf um ihre Freiheit, Souveränität und Demokratie. Die westlichen Mächte und die Nato reagieren geschlossen wie nie zuvor. Etwas von mir nie Erwartetes ist eingetreten: Die neutralen Staaten Schweden und Finnland wollen der Nato beitreten und damit dem westlichen Bündnis gerade in Skandinavien Rückhalt geben. Damit hat Putin genau das Gegenteil von dem erreicht, was er wollte, nämlich die Spaltung Europas. Dem Jahr 1990 und Michail Gorbatschow verdanken wir die Einheit Deutschlands und den Abzug der russischen Streitkräfte aus Deutschland. Das gespaltene Europa ist durch den Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten wieder geeint und auch die baltischen Staaten sind Teil des neuen Europas. Das alles gibt mir die Zuversicht, dass wir die gegenwärtige Krise bewältigen werden und die Ukraine die russische Aggression abwehren kann. Im Jahr 1096 habe ich den 101-jährigen Ernst Jünger getroffen. Er gab mir etwas mit auf den Weg: „Sagen Sie den jungen Leuten: Es ist besser in der Zuversicht als in der Furcht zu leben.“
Theo Waigel, 83, ehemaliger Bundesfinanzminister, Seeg im Allgäu

Ulrich Kirsch, 71, Oberst a.D.

Foto: Ralf Lienert

Ulrich Kirsch: Von dem Widerstand der Ukraine kann man lernen

Als der russische Angriffskrieg begonnen hatte und viele von der Angst vor einem Atomkrieg sprachen, habe ich an meine Mutter gedacht. Ich kann mich gut daran erinnern, wie sie auf die Kuba-Krise 1961 – als aus dem Kalten Krieg ein heißer zu werden drohte – reagiert hat. Sie ging einkaufen, legte Vorräte an. Und zwar ganz ohne Panik, ganz unspektakulär. Das war eben die Kriegsgeneration, die wusste, dass man sich der Lage angepasst verhalten muss. Diese Generation hatte noch so eine Art Katastrophenkultur. Das ist bei uns heute leider versiegt. Wir sind mit viel Naivität durch die letzten Dekaden gegangen und sehen nun ziemlich hilflos aus. Ich kann den Älteren nur sagen, sie sollen cool bleiben und den Jüngeren Mut machen, vielleicht etwas weniger in Freizeit- und Urlaubskategorien zu denken und Eigenverantwortung für den Katastrophenfall zu übernehmen. Von dem bewundernswerten Widerstand, den die Ukraine gegen Russland leistet, kann man eines lernen: Wenn die Bevölkerung bereit ist, für die eigene Freiheit einzustehen, dann funktioniert das. Wenn aber russische Soldaten einfach losgeschickt werden, ohne zu wissen, was sie tun sollen und für was sie kämpfen, ist das zum Scheitern verurteilt. Wichtig ist mir auch folgender Punkt: Wenn zugelassen wird, dass – wie 2014 auf der Krim geschehen – Territorium einfach annektiert wird, dann wird eine Tür geöffnet, die nur schwer wieder geschlossen werden kann.
Ulrich Kirsch, 71, Oberst a.D., ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbandes, Sonthofen

Elmar Leib, 86, Zauberer

Foto: Leib


Elmar Leib: Familie, das Wichtigste in Krisenzeiten

Ein Jahr leben wir jetzt schon mit dem Ukrainekrieg, der Angst und dem Sparen, aber trotzdem habe ich nicht das Gefühl, es wird besser. Ich bin froh, dass ich schon 86 bin und die Probleme der Zukunft mich nicht mehr direkt betreffen werden. Anders sieht das für meine Kinder, Enkel und Urenkel aus, um die ich mich eher sorge. Ich weiß noch gut, wie wir damals im Luftschutzbunker um unser Leben bangten, als die Sirenen losgingen und ein Lichtermeer an Leuchtraketen am Himmel war. Ich habe viel Schlimmes gesehen und erlebt, aber uns ging es immer gut. Ich komme aus dem Norden, dort haben wir nie Hunger gelitten, denn alles war vor der Tür. Für Zuckerrüben sind wir ins Feld gegangen und für Mehl in das Nachbardorf. Meine Eltern wussten damals nicht einmal, wo Mallorca liegt oder dass es überhaupt existiert. Die Zeiten haben sich stark geändert, aber auch geprägt. Beispielsweise habe ich unseren Öltank schon vollgemacht, sodass ich das ganze Jahr kein Öl mehr kaufen muss.

Heutzutage jammern die Leute mehr, das ist für meine Frau und mich, die sehr streng erzogen wurden, schwer nachzuvollziehen. Als nach dem Krieg alles zerbombt war, haben wir die Ärmel hochgekrempelt, zusammengearbeitet und alles wieder aufgebaut. Uns war es auch immer wichtig, bewusst zu leben, selber anzubauen und keine Lebensmittel wegzuschmeißen. Das hat sich leider über die Generationen auch stark verändert und macht mir bezogen auf den Klimawandel, der thematisch zurzeit leider immer weiter nach hinten rückt, große Sorgen. Aber das Wichtigste in Krisenzeiten war und ist der Halt durch die Gemeinschaft und Familie. Ich bin wirklich sehr froh, eine so große und tolle Familie zu haben. Was mir auch immer Hoffnung gegeben hat über die Jahre, ist das Theaterspielen. Als Zauberer „Funzelino“ oder als Nikolaus – ich freue ich mich jedes Mal aufs Neue, wenn ich den Kindern ein Strahlen ins Gesicht zaubern kann.
Elmar Leib, 86, Zauberer, Nordendorf

Valentin Mayer, 102, Landwirt

Foto: Theresa Osterried


Valentin Mayer: Ich habe Krieg erlebt – und Völkerverständigung

Ich habe damals im Zweiten Weltkrieg gegen die Russen gekämpft und bin mit der Fahrradkompanie bis kurz vor Moskau gekommen. Zunächst war ich wild darauf, ein Soldat und Held zu werden.

Ich war an der Front dabei, ich habe gegnerische Panzer zerstört und getötet. Durch sieben Verwundungen behindert und um viele Illusionen ärmer, bin ich aus dem Krieg zurückkehrt. Der blutige Konflikt hat aus mir einen absoluten Kriegsgegner gemacht. Als unter Adenauer die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde, bin ich aus der CSU ausgetreten. Nach 40 Jahren bin ich mit meiner Division nach Russland zurückgekehrt, wir haben uns dort mit russischen Veteranen getroffen. Ich war erwartungsvoll: Wie verhalten sich die Russen uns gegenüber? Ich habe auch offen erzählt, dass ich als Soldat in Russland war. Und ich dachte mir: Die müssen uns hassen wie die Pest. 

Aber das Gegenteil war der Fall. Das waren friedfertige Menschen, die uns mit offenen Armen empfangen haben. Bei einem Gespräch mit dem Präsidenten des Veteranenverbands haben wir sogar festgestellt, dass wir bereits auf demselben Schlachtfeld gegeneinander gekämpft haben. Danach hat uns trotzdem eine jahrelange, enge Freundschaft verbunden. Gemeinsam haben wir deutsche und russische Veteranen ein Denkmal aufgestellt, mit der Aufschrift „Nie wieder Krieg.“ Das war ein sehr bewegender Moment für mich. Mut macht mir diese Völkerverständigung, dass man aufeinander zugehen kann, ohne Hass und ohne Vorurteile. Trotz der Gräueltaten, die wir begangen haben. Und wenn man bereit zur Einsicht und Reue ist, kann man verzeihen und Frieden schließen. Selbst als ehemalige Gegner.
Valentin Mayer, 102, Landwirt, ehem. Bürgermeister, Jedesheim-Illertissen

Rose Maier Haid, 82, Künstlerin

Foto: Fred Schöllhorn

Rose Maier Haid: Gegen Verunsicherung hilft Kunst

Ich habe den letzten Krieg noch erlebt. Das Fallen von Bomben ist unvergesslich. Meine Familie war vom Krieg betroffen. Ich weiß, was hungern bedeutet. Ich habe den Eindruck, dass viele Menschen nicht wissen wollen, was Krieg wirklich ist und was es für die Menschen bedeutet. Vor allem wenn man bedenkt, dass sich alles wiederholt. Das enttäuscht mich. 

Wir haben doch ein Gehirn! 

Ich würde mir wünschen, dass Politiker vorausschauender handeln würden. Viele politische Entscheidungen kamen einfach zu spät.

Trotz Corona gab es weiter Kurse an meiner Kunstschule in Friedberg. Wir haben dann einfach mit Maske gemalt. Darauf verzichten wollte ich nicht. Meine Erfahrungen sind, dass Kunst für Menschen Groß und Klein sehr wichtig ist gerade in schwierigen Zeiten. Ich erlebe, dass Kinder zutiefst verunsichert sind. Dagegen hilft Kunst! Man kann und muss selbst etwas schaffen. Dadurch verändert sich die Art, wie wir die Welt wahrnehmen. Durch Kunst können Menschen lernen wieder selbst zu denken. Unsere Welt braucht kreative und individuelle Köpfe, die nicht einfach alles mitmachen und die Dinge hinterfragen. Auch mir helfen meine Kurse und der Kontakt zu den Kindern. Wir unterstützen uns da gegenseitig. Ich hätte gerne mehr auf einer großen Ebene bewegt. Das lässt mich kritisch und enttäuscht zurück.
Rose Maier Haid, 82, Künstlerin, Friedberg

Martha Schad, 83, Historikerin

Foto: Marcus Merk


Martha Schad: Die junge Generation macht mir Mut

So ein Jahr habe ich noch nie erlebt. Ich bin 1939 geboren, sechs Jahre später war der Krieg vorbei und seitdem habe ich in unserem Land nur Frieden erlebt. Ich bin sprachlos gewesen beim Angriff Russlands auf die Ukraine. Vor Jahren haben wir eine Rundreise durch die Ukraine gemacht und sie als ruhiges, stilles und schönes Land erlebt. Und jetzt: nur noch Trümmer und Elend. Was mich auch bedrückt: Dass der Antisemitismus in Deutschland wieder ein Problem wird. Auch da bin ich fassungslos, wie konnte das nur geschehen. 

Was ich mir wünschen würde in der aktuellen Situation ist nun natürlich, dass die Russen einsehen, welchen Schaden sie angerichtet haben. Auch in Russland trauern Menschen ja um ihre Söhne. 

Der Blick in die Geschichte macht leider wenig Mut. 1924 veröffentlichte die Künstlerin Käthe Kollwitz, ihr großes Plakat „Nie wieder Krieg“, das bis heute wohl bekannteste deutsche Anti-Kriegsplakat. 15 Jahre später war dann der Frieden schon wieder vorbei.
Was mir aber Mut macht, ist der Blick auf die junge Generation. Ich sehe viele junge Menschen, die sich vielfältig engagieren, dass unsere Welt in etwa so stehen bleibt, wie sie ist – auch wenn es ja nicht unbedingt gleich das Festkleben als Protestmittel sein muss. Die alte Generation muss sich jetzt dieser jungen Generation annehmen und sie unterstützen, wo es nur geht. Jede Generation kann enorm viel nach vorne bewegen, das darf man nie unterschätzen.
Martha Schad, 83, Historikerin, Neusäß

Edzard Reuter, 94, ehem. Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG

Foto: Marijan Murat, dpa

Edzard Reuter: Die Erfahrungen der Älteren sind nicht mehr eins zu eins anwendbar

Bundeskanzler Olaf Scholz hat völlig recht: Wir leben in einer Zeitenwende. Die hat nicht erst in diesem Jahr eingesetzt, aber sie hat ihren Höhepunkt erreicht. Wir erleben eine ganze Reihe von Veränderungen. Geprägt ist unser Erleben durch den Einfall der Russen in der Ukraine und durch die zu Ende gehende Pandemie, die unsere Gesellschaft in vielerlei Hinsicht in Unordnung gebracht hat. 

In einer durch die Revolution der Digitalisierung ausgelösten und sehr komplex gewordenen Weltlage erfahren wir zudem plötzlich in unserem eigenen Land die Folgen einer dramatischen Umstellung unserer Wirtschaftsstrukturen. In allen Bereichen wird geklagt über Personalmangel. Wir rufen plötzlich nach etwas, was noch vor ein paar Jahren des Teufels war: dass wir mehr Einwanderung nach Deutschland brauchen. Das sind völlig ungewohnte Situationen, die wir in diesem Jahr durchgemacht haben. Und das hat Folgen: 

Die Erfahrungen, die die ältere Generation – und zu der gehöre ich selbst – gemacht haben, sind nicht mehr eins zu eins anwendbar. 

Eine neue Generation muss neue Wege finden. Das ist ein schwieriger Prozess. Und dieser schwierige Prozess wird unsere Gesellschaftsstrukturen nicht ungeschoren lassen. 

Die jüngere Generation hat sehr schwierige Aufgaben zu lösen. Eine dieser Aufgaben wird es sein, Europa zusammenwachsen zu lassen – es darf sich nicht länger bloß als eine Summe von einzelnen Staaten, die jeweils für ihren eigenen Vorteil kämpfen, verstehen. Die Welt muss zudem verstehen, dass China eine entscheidend wichtige Rolle spielen wird. 

Es wird keine Fortsetzung des Lebens in unserem geschützten eigenen Garten geben. Das ist eine Herausforderung. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass wir sie bewältigen. Ich kenne viele jüngere Menschen. Es ist eine schlimme Fehlannahme, dass sie alle nur darauf aus sind, weniger zu arbeiten und ein schönes Leben zu genießen. Nein, sie wollen die Verantwortung übernehmen.
Edzard Reuter, 94, ehem. Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, Stuttgart

Centa Weith, 100, ehemalige kaufmännische Angestellte

Foto: Ulrich Wagner

Centa Weith: Jeder will recht haben, dabei ist das gar nicht wichtig

Als die Bomben am 25. Februar 1944 auf Augsburg fielen, sind meine Mutter, meine Brüder und ich in den Luftschutzkeller unseres Hauses geflüchtet. Eine Luftmine schlug ein. Durch den Druck riss das Stahlfenster aus der Wand und schleuderte auf die gegenüberliegende Seite des Kellers. In dieser Nacht sind dort drei Menschen gestorben. Meine Mutter wurde schwer verletzt. Ich habe nur überlebt, weil ich in diesem Moment nach unten gebückt auf dem Stuhl saß. Das Fenster flog über meinem Kopf hinweg und durchschlug hinter mir die Wand. Wäre ich ganz normal aufrecht gesessen, wäre ich tot gewesen. Nach dem Angriff brachten wir Geschwister meine Mutter ins Krankenhaus. Ganz Lechhausen hat da schon gebrannt. Ob unser Vater, der zu der Zeit auf der Arbeit war, noch lebte, wussten wir nicht. Wir suchten ihn. Mein Bruder und ich gingen in ein Haus, das noch unversehrt war – ich bekam ein ungutes Gefühl. Wir liefen wieder raus und suchten mit anderen Menschen in einem Splittergraben Schutz. Kurze Zeit später wurde auch dieses Haus zerbombt. In dieser Nacht wurde mir mein Leben zweimal geschenkt und diese Erfahrung hat mich verändert. Das begleitet mich bis heute. Darum rege ich mich über Kleinigkeiten gar nicht auf. Ich hatte eine wunderbare Kindheit. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen. Zusammen mit meinen Tanten und Onkeln haben wir viel Zeit verbracht und hatten eine enge Verbindung zueinander. Dieser Zusammenhalt hat mich stark geprägt. Auch wenn mir das die Leute nicht glauben, bei uns gab es nie Streit. 

Ich kann bis heute nicht verstehen, warum Menschen wegen so vielen Kleinigkeiten streiten. 

Jeder will recht haben, dabei ist das gar nicht wichtig. Seit dieser Bombennacht weiß ich, dass so vieles gar nicht wichtig ist. Hauptsache, man ist gesund. Wir hatten nichts mehr, außer die Kleider an unserem Leib. Heute frage ich mich oft, wie wir damals durchgekommen sind. Aber wir waren einfach zufrieden, auch wenn wir nicht viel hatten. Ich habe überlebt und aus diesem Glück Mut geschöpft. Ich habe mir eine Arbeit gesucht und auch während des Krieges immer viel Sport gemacht – beides hat mir sehr viel Halt gegeben. Es gab danach noch die ein oder andere schwierige Zeit in meinem Leben, aber ich war immer lustig und wusste, irgendwann wird sich alles lösen.
Centa Weith, 100, ehemalige kaufmännische Angestellte, Augsburg

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