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Bundestag: Holocaust-Gedenken: "Er sprach nicht – und ich fragte nicht"

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Holocaust-Gedenken: "Er sprach nicht – und ich fragte nicht"

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    Sein Vater überlebte die Schoah. Marcel Reif spricht für die zweite Generation der Opfer.
    Sein Vater überlebte die Schoah. Marcel Reif spricht für die zweite Generation der Opfer. Foto: Michael Kappeler, dpa

    Marcel Reif weiß, was er seinem Vater zu verdanken hat – eine behütete, unbelastete Kindheit. "Er sprach nicht – und ich fragte nicht", sagt der bekannte Sportjournalist. Aus Angst, sich Unsagbares anhören, Unfassbares erfassen oder Unerträgliches ertragen zu müssen, wollte er gar nicht so genau wissen, was sein Vater Leon in den Nazijahren erlebt und erlitten hatte. Wozu auch? "Die Wahrheit war doch eindeutig genug. Ich hatte keine Großeltern, und ich wusste, warum. Ein Onkel, eine Tante, eine Cousine waren geblieben. Alle anderen – ermordet."

    "Ein Onkel, eine Tante, eine Cousine waren geblieben. Alle anderen – ermordet"

    Reif, 1949 als Sohn einer Katholikin und eines polnischen Juden geboren, erzählt in der Holocaust-Gedenkstunde des Bundestages die bewegte Geschichte seines Vaters. Aus Gesprächen, die er erst sehr viel später mit seiner Mutter geführt hat, kennt er dessen Beweggründe heute etwas genauer: "Es durfte nicht sein, dass auch noch seine Kinder von den furchtbaren Schatten heimgesucht und gequält werden, die seine Kindheit und Jugend zerstört hatten. Wir sollten nicht in jedem Postboten, jedem Bäcker, Straßenbahnfahrer oder Lehrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten." Deshalb hat Leon Reif geschwiegen. Und er selbst, erinnert sich Marcel Reif, habe sich nur allzu gerne in den warmen Mantel des väterlichen Schweigens gehüllt. Waren andere Dinge nicht wichtiger? Die Lateinnote? Farbe und Modell des ersten Autos? Der Fußball?

    Es ist eine Rede, wie sie der Bundestag lange nicht mehr gehört hat – und das liegt nicht nur daran, dass in der Gedenkstunde zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz mit Marcel Reif zum ersten Mal jemand spricht, der den Holocaust nicht selbst erlebt hat. Die eindringliche Art des 74-Jährigen rührt etliche Abgeordnete zu Tränen. Aufgewachsen in Polen, wegen der antisemitischen Strömungen dort in den Fünfzigerjahren zuerst nach Israel emigriert und dann im Land der Täter heimisch geworden: Das neue, andere Deutschland, sagt der Sohn durchaus anerkennend, habe der Familie Reif damals eine zweite Chance gegeben. "Hier waren Verwandte, die helfen konnten, hier fanden wir ein Dach über dem Kopf, hier fand mein Vater Arbeit, um die Familie durchzubringen."

    Gedenkstunde zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

    Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi spricht im Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
    Die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi spricht im Bundestag zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Foto: Kay Nietfeld, dpa

    Dass Reif überhaupt hier steht, verdankt er dem früheren Krupp-Chef Berthold Beitz. Er war es, der seinen Vater aus dem Todeszug in ein Vernichtungslager holte – mit der Begründung, er benötige Arbeitskräfte für die kriegswichtige Produktion. Die gebürtige Ungarin Eva Szepesi, die zweite Rednerin an diesem Vormittag, hatte ähnliches Glück. Als Zwölfjährige wurde sie von der Roten Armee aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit, in dem sie entkräftet zwischen mehreren toten Frauen in einer Baracke lag, die Häftlingsnummer A-26877 auf den Unterarm tätowiert. Mit ihrem Mann, der ebenfalls fast seine ganze Familie durch die Shoah verlor, kam auch sie in den Fünfzigerjahren nach Deutschland – und blieb. "Am Anfang hatte ich große Angst hier zu sein", gesteht sie. Aber sie hat, wie Leon Reif, ihren Frieden mit Deutschland gemacht. . "Glauben Sie mir, es fällt mir nicht leicht mit 91 Jahren hier zu stehen", sagt sie. Doch sie spreche für all diejenigen, die nicht mehr sprechen können. Nach den Massakern des 7. Oktober in Israel aber ist ihr nun vor allem eines wichtig: "Ich wünsche mir, dass nicht nur an den Gedenktagen an die toten Juden erinnert wird, sondern auch im Alltag an die Lebenden. Sie benötigen jetzt Schutz." 

    Marcel Reif bleibt von seinem Vater hauptsächlich ein Satz in Erinnerung, mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel gedacht. Drei Worte in dem warmen Jiddisch, das er so vermisse: "Sej a Mensch." 

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