Der Konsum von Cannabis ist in Deutschland seit dem 1. April für Erwachsene legal. Die Ampel-Koalition hat damit einen jahrzehntewährenden Grundsatz der deutschen Drogenpolitik geändert. Eines der Argumente für die Freigabe von Marihuana war, dass Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichte entlastet würden, weil sie die Konsumenten nicht mehr strafrechtlich verfolgen müssten. Zunächst hat die Legalisierung jedoch zu einer Zusatzbelastung der Justiz geführt, was auch von der Koalition angekündigt worden war. Wer beispielsweise wegen des Besitzes von Mengen bis zu 25 Gramm im Gefängnis saß, für den greift eine Amnestie und muss freigelassen werden. Bei Mischfällen mit anderen Delikten müssen die Gerichte möglicherweise die Höhe der Strafe anpassen.
Der Richterbund hat bei allen Bundesländern nachgefragt, wie viele Altfälle sich die Behörden noch einmal angeschaut haben. In Summe sind es 279.000. Die Zahl liegt unserer Redaktion exklusiv vor. Mit 86.000 entfallen auf das bevölkerungsreichste Bundesland Nordrhein-Westfalen die meisten Überprüfungen, gefolgt von Bayern (41.500) und Hessen (34.000). Mit 531 hat das kleinste Bundesland Bremen die wenigsten Strafakten einer neuerlichen Bewertung unterzogen.
Altfälle nach Cannabis-Amnestie: Zehntausende Arbeitsstunden für die Justizbehörden
Am Beispiel Baden-Württembergs schildert der Richterbund, dass die Einzelprüfung der Altverfahren zwischen jeweils 15 bis 60 Minuten dauere. Hochgerechnet auf alle 279.000 Fälle bedeutet das im besten Fall ein Volumen von rund 70.000 Arbeitsstunden.
Der Richterbund reagiert mit schwerer Kritik auf die Zusatzbelastung der Justiz. „Das Cannabisgesetz stellt sich für die Justizpraxis als das befürchtete Bürokratiemonster heraus“, sagte der Geschäftsführer des Verbandes, Sven Rebehn, unserer Redaktion. „In einer Zeit, in der die Verfahrenszahlen bei den Staatsanwaltschaften immer neue Höchststände erreichen und die angespannte Sicherheitslage mehr denn je einen wehrhaften Rechtsstaat erfordert, wird die Justiz durch ein unausgegorenes Gesetz noch zusätzlich belastet“, legte er nach.
Laut Richterbund geben die Zahlen aus Niedersachsen einen Anhaltspunkt, wie häufig es wegen der neuen Gesetzeslage zu einer Änderung bei der in der Vergangenheit verhängten Strafen im Zusammenhang mit Cannabis kommt. Aus den 16.000 Prüffällen haben die niedersächsischen Staatsanwaltschaften rund 3600 relevante Verfahren herausgefiltert. Stichproben zufolge endeten rund 15 Prozent davon mit einem Straferlass, in etwa jedem dritten Fall war die Strafe abzuändern.
Knapp 100 freigelassene Häftlinge
In Bayern hat die Justiz der Auswertung zufolge 41.500 Verfahren noch einmal angesehen, bei den Gerichten sind bislang mehr als 6200 Verfahren zur Neufestsetzung der Strafe eingegangen. In etwa 3.500 Fällen haben die Gerichte bereits darüber entschieden. Die hessischen Behörden haben bereits 450 Mal Strafen erlassen, in weiteren 88 Fällen wurde das Strafmaß neu festgesetzt.
Keine Daten liegen dem Richterbund darüber vor, wie viele Häftlinge bislang bundesweit auf freien Fuß gesetzt wurden. Die Zeitungen der Ippen-Mediengruppen berichteten kürzlich von 91 Freilassungen, allerdings fehlten dabei die Daten aus Nordrhein-Westfalen.
Dem Richterbund zufolge erwarten die befragten Justizministerien auch künftig keine spürbare Entlastung infolge der Cannabis-Legalisierung. Der Besitz, der Handel und die Abgabe der Droge sind auch weiterhin unter bestimmten Voraussetzungen strafbar oder eine Ordnungswidrigkeit. Bund und Länder hatten im Zuge der Freigabe Strafen verschärft und neue Bußgelder eingeführt, beispielsweise für das Rauchen eines Joints in der unmittelbaren Nähe von Schulen und Kindergärten.
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