Das Zuhause von Shorena Khomeriki und Giorgi Okribelashvili liegt gut eine halbe Stunde Fahrt von Tiflis entfernt. Ein Vorort mit Wohnblocks aus Sowjetzeiten, in der Nachbarschaft ducken sich bescheidene Häuser. Eine mit Schlaglöchern übersäte Schotterstraße führt an der kleinen Kate, dem einfachen Haus des Ehepaars vorbei. Einstöckig, mit bröckelndem Putz und einem Streifen Grün herum. Das Wohnzimmer dient zugleich als Schlafzimmer. Dann gibt es noch eine kleine Küche und den Gang, der von der Eingangstür zu den Zimmern führt. „Ich hätte mir nicht vorstellen können, dass hier fast 20 Menschen Platz finden“, sagt die 42-Jährige, schüttelt den Kopf und gießt einen Kaffee nach.
Die Spezialeinheit der Kriminalpolizei kam mit großem Aufgebot. Um 18 Uhr, am 16. Mai, stürmten sie das Haus, als wäre dort eine Einheit von Terroristen versteckt. Schwere Stiefel trampelten über den groben Holzfußboden. Als der angekettete Wachhund der Familie sich nicht beruhigte, zog einer der Polizisten seine Pistole und zielte drohend auf Giorgi Okribelashvili. „Bring deinen Hund unter Kontrolle, hat er zu mir gesagt“, so berichtet der 40-Jährige von jenem Abend, als die Polizei nach seinem Sohn suchte.
Georgien: Omar demonstrierte in Uniform, das provozierte die Staatsgewalt
„Zuerst dachte ich, sie wollen mich verhaften. Dann fragten sie nach meinem Sohn“, erklärt Okribelashvili. Beide hatten sie zusammen an einer Demonstration gegen die neuen „Agenten-Gesetze“ in Georgien teilgenommen. „Wir waren schlicht Demonstranten, wie Zehntausende andere auch.“ Fünf Stunden Verhör folgten. „Als Vater hätte ich das Recht gehabt, jede Aussage zu verweigern. Niemand hat mich darauf hingewiesen. Stattdessen standen im Protokoll Aussagen, die ich nie gemacht habe“, sagt der 40-Jährige.
Sein Sohn Omar sitzt mittlerweile in Untersuchungshaft. Ihm drohen eine mehrjährige Gefängnisstrafe für die Beschädigung von Staatseigentum und das Anzetteln von Aufruhr. „Beim Ersten ging es um Schutzschilder der Polizei, die aneinander gereiht als Barriere dienten. Er hat nichts beschädigt“, erklärt der Vater. Was wohl mehr wiegt: Dem Sohn wird vorgeworfen, zu den Drahtziehern jener Demonstration zu gehören. „Mein Sohn ist 19. Er hat nichts Unrechtes getan. Die Regierung versucht wie in Russland, unsere Demokratie zu zerstören.“
In Tiflies ziehen Schlägertruppen durch die Hauptstadt
Omar Okribelashvili hatte kurz vor der Demo seinen obligatorischen Militärdienst absolviert. „Er zog seine Uniform an, als er zur Demo ging. Es sollte ein Symbol sein. Ich denke, das hat sie besonders herausgefordert“, meint der Vater in Richtung Staatsgewalt. Ansonsten kann er sich nicht vorstellen, warum ausgerechnet sein Sohn verhaftet wurde. Mutter Shorena Khomeriki ist fassungslos, dass ihr Sohn im Gefängnis sitzt: „Mein Sohn ist höflich und hilfsbereit. Er wollte sich bei der Armee verpflichten. Weil er seinem Land dienen will.“
Aktivistinnen und Aktivisten, die von der Staatsgewalt verhaftet werden. Bürgerrechtler, die von Schlägertrupps verprügelt werden. Ein immer autoritärerer Kurs der Regierungspartei „Georgischer Traum“, der weg von der Europäischen Union Richtung Moskau führt. „Georgien ist auf dem Weg, seine Demokratie zu verlieren“, sagt Ani Tavazde. Die 27-Jährige sitzt in einem Café am Rande des Dedaena Parks im Herzen der Hauptstadt Tiflis. Es ist ein schöner Tag, sattes Grün leuchtet im Sonnenlicht.
Die junge Frau gilt laut dem neuen Gesetz als eine vom Ausland bezahlte Agentin. Ani Tavazde arbeitet für drei Nichtregierungsorganisationen, die sich für Bürgerrechte und Demokratie einsetzen. Alle drei Organisationen werden durch Programme aus dem Ausland unterstützt. Laut dem neuen Gesetz müssen sich Organisationen mit mehr als 20 Prozent ausländischer Finanzierung als „Agenten ausländischer Einflussnahme“ registrieren lassen. „Das ist natürlich eine schwere Diffamierung. Jeder Handwerker, der einen Auftrag von uns zum Beispiel für den Büroausbau annimmt, wird ebenso bloßgestellt“, erklärt die Aktivistin. „Mit einem quasi identischen Gesetz begann in Russland die endgültige Demontage der Demokratie“, erklärt sie. Die pro-europäische georgische Präsidentin Salome Surabischwili hat Verfassungsklage gegen das Gesetz eingelegt. Doch ihr Einfluss ist begrenzt. Die EU hatte Georgien erst Ende 2023 zum Beitrittskandidaten gekürt. Der Aufnahme-Prozess ist wegen des „Agenten-Gesetzes“ nun auf Eis gelegt.
Es brauchte zwei Versuche, um das Gesetz in Kraft treten zu lassen. 2023 brandeten gewaltige Demonstrationen dagegen auf. 50.000 Menschen gingen in der Hauptstadt auf die Straße. Im Mai 2024 startete die Regierung einen neuen Anlauf. Trotz erneuter Massendemonstrationen mit über 100.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde es im Parlament abgesegnet. Ani Tavazde war bei den Demonstrationen dabei. Mit Gasmaske, um sich gegen Tränengas und den scharfen Strahl der Wasserwerfer zu schützen.
Die Regierungspartei „Georgischer Traum“ hat im Parlament eine klare Mehrheit. Ab September gilt das Gesetz. „Viele Organisation haben angekündigt, sich nicht zu registrieren. Sie hoffen auf Abwahl der Regierung am 26. Oktober. Doch es drohen empfindliche Strafen“, erklärt die Aktivistin. „Nicht nur, dass sie Organisationen der Zivilgesellschaft als Agenten des Auslands brandmarken. Mitarbeiter und Aktivisten werden mittlerweile brutal von rechtsextremen Schlägertrupps angegangen“, fügt sie hinzu. Ein Kollege von ihr sei verprügelt worden. Sie selbst erhält Hass-Anrufe. „Sie verschonen mit diesen Anrufen nicht einmal die Kinder meiner Kollegen. Verängstigen selbst Teenager.“ Sie schüttelt wütend den Kopf.
In Vorwahl-Umfragen führt der „Georgische Traum“, eine einst sozialdemokratische Partei. Doch nicht zuletzt die immer deutlicher werdende Abkehr von Europa könnte der Regierungspartei Stimmen kosten. 80 Prozent der Menschen in Georgien befürworten einen Beitritt zur EU. „Deswegen hängen an öffentlichen Gebäuden weiterhin die Flagge der EU, doch in Wirklichkeit geht der Kurs des ,Georgischen Traums‘ Richtung Russland“, erklärt die 27-Jährige. „Auch Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine muss für die Propaganda herhalten.“ Der Westen wolle in Georgien eine weitere Front gegen Russland aufbauen, heißt es etwa. Der Westen habe den Krieg angezettelt. „Ich denke nicht, dass das verfängt. 20 Prozent unseres Territoriums sind von russischen Truppen besetzt“, meint die Bürgerrechtlerin und spielt auf die beiden Pseudo-Separatisten-Republiken in Georgien unter Moskaus Kontrolle an.
Mittlerweile legt Ministerpräsident Irakli Kobachidse nach. Er kündigte in lokalen Medien an, die wichtigste Oppositionspartei nach den Wahlen im Oktober für verfassungswidrig erklären zu lassen. Die Vereinte Nationalbewegung (ENM) ist die Partei des ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili. Der sitzt im Gefängnis. Als politischer Gefangener, so seine Anhänger. Wegen Amtsmissbrauch, erklärt die Regierung.
Ein Kreuz als Mahnung vor dem Sittenverfall
Ani Tavazde geht Richtung Parlamentsgebäude. Es sind nur wenige Minuten zu Fuß vom Café. Vor dem mächtigen Gebäude wehen die georgische und die europäische Flagge. Dazwischen steht ein Symbol der georgischen orthodoxen Kirche. „Das Kreuz steht dort seit 2021“, erklärt Tavazde. Rechtsradikale stürmten damals während der Pride-Week, in der sexuelle Vielfalt gewürdigt wird, Büros von Bürgerrechts-Organisationen nahe dem Parlament. Auch das von Ani Tavazde. Verprügelten, wer sich ihnen in den Weg stellte oder nicht rechtzeitig ausweichen konnte. Sie schlugen einen Kameramann so brutal zusammen, dass er später seinen Verletzungen erlag. Das stählerne Kreuz errichteten die Rechtsradikalen von der Polizei unbehelligt als Mahnung vor dem Sittenverfall durch den dekadenten Westen. Als deren Handlanger sehen sie Menschen wie Ani Tavazde, die sich für die queere Szene engagiert.
Oder Tornike Mandaria. Er wurde damals ebenfalls verletzt und blutig geschlagen. Der freie Journalist arbeitet unter anderem für deutsche Zeitungen. Er führt durch die Nachbarstraßen des Parlaments. Dort erzählen Graffitis auf den Wänden von der Wut gegen Russland und vom Glauben an ein demokratisches Europa. „Russia“ steht auf Müllcontainer gesprayt, mit Pfeilen nach oben zum Mülleinwurf. „Nach dem Agenten-Gesetz, den Drohungen gegen die Opposition, geht es jetzt gegen die queere Community“, erklärt der Journalist.
Der regierende „Georgische Traum“ will in der Verfassung Bestimmungen zum Schutz „familiärer Werte und Minderjähriger“ aufnehmen. Unter dem Strich wird Sexualität, die nicht dem traditionellen Bild entspricht, als abnormal gesehen und stigmatisiert. Gleichgeschlechtliche Ehen oder gar Adoption von Kindern durch gleichgeschlechtliche Paare sollen nicht möglich sein. „Alles ganz so, wie es in Putins Russland lief und läuft. Oder in Orbans Ungarn. Mit letzterem versteht sich Ministerpräsident Irakli Kobachidse übrigens bestens. Derweil versucht die Opposition, Bündnisse zu finden. Doch die Parteien sind in der Bevölkerung unbeliebt“, seufzt der junge Journalist.
Der 28-Jährige kann sich gut erinnern, als 2008 russische Truppen in Georgien einmarschierten: „Ich war als Kind in den Sommerferien auf dem Land, als russische Kampfflugzeuge über unsere Köpfe donnerten. Russische Truppen rückte bis nahe der Hauptstadt vor. Es kam zu Zerstörungen und schweren Menschenrechtsverletzungen.“ Der Journalist ist sich sicher: „Der Anspruch Russlands, unser Georgien zu kontrollieren, ist in all den Jahren geblieben. Sie meinen es ernst.“ Er fordert vom Westen stärkere Sanktion gegen Oligarchen, die Putin unterstützen. „Es kann nicht angehen, dass sie im Westen ein luxuriöses Leben führen.“ Und auch die Ukraine müsse mehr Unterstützung erfahren. „Gewinnt dort Putin, ist es für uns in Georgien eine Katastrophe.“
Wie der Journalist geht die Menschenrechtsaktivistin Ani Tavazde davon aus, dass sich die Regierung die Macht nicht nehmen lässt. „Merken sie, dass sie verlieren, werden sie die Ergebnisse fälschen, um an der Macht zu bleiben“, erklärt die junge Frau. Russland hat der Regierung schon seine Hilfe zugesichert, falls es zu Unruhen kommt. Die sind nicht unwahrscheinlich.
In einem kleinen Haus in einem Vorort von Tiflis wartet Giorgi Okribelashvili unterdessen darauf, dass wieder ein Stoßtrupp kommt. „Dann werden sie mich holen“, ist er sich sicher. So wie seinen Sohn.
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