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Georgien : Georgien droht nach der Parlamentswahl die Zerreißprobe 

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Georgien droht nach der Parlamentswahl die Zerreißprobe 

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    Nach der Parlamentswahl in der Südkaukasusrepublik Georgien gibt es Streit über das vorläufige Ergebnis der Wahlkommission. (Archivbild)
    Nach der Parlamentswahl in der Südkaukasusrepublik Georgien gibt es Streit über das vorläufige Ergebnis der Wahlkommission. (Archivbild) Foto: Shakh Aivazov/AP/dpa

    Der Himmel über Tiflis ist am Sonntagmorgen nach der Parlamentswahl wolkenlos. Auf der Rustaveli Avenue, dem vierspurigen Boulevard vor dem Parlament, rollt unermüdlich der Verkehr. Unweit des Freiheitsplatzes werben Bus-Unternehmer für eine Rundfahrt in roten Doppeldeckern. Alles scheint wie immer zu sein. Doch in Georgiens Hauptstadt brodelt es.

    In der Nacht hatten die führenden Köpfe der Opposition den Sieg der nationalkonservativen Regierungspartei „Georgischer Traum“ für nichtig erklärt. Auch in- und ausländische Wahlbeobachter sprechen von Betrug. Dem Land droht die Zerreißprobe. Die kommenden Tage dürften entscheiden, ob Georgien sich politisch fängt oder in eine Zeit der Unruhe und Unsicherheit stürzen wird. Nach den proeuropäischen Protesten im Frühjahr könnte die Rustaveli Avenue nun wieder zum Schauplatz des Kampfes zwischen der Opposition und der russlandnahen Regierung werden.

    Menschen misstrauen dem Wahlprozess

    „Ich denke, dass die Regierung abgewählt wird“, sagt Zviad Korize, als er das Foyer der Musikakademie von Tiflis betritt. Es ist Samstag. Die prunkvolle Eingangshalle mit ihren meterhohen Marmorsäulen ist heute ein Wahllokal. Korize, 55 Jahre alt, ein Mann mit grauem Bart, lichtem Haar und Brille, beobachtet die Abstimmung für Transparency International, die einflussreichste Nichtregierungsorganisation (NGO) im Land. „Wirklich frei und fair sind die Wahlen in Georgien nicht“, sagt Zviad Korize. Das Misstrauen gegenüber dem Staat stecke tief drin in den Menschen. Das wolle er durch seine Anwesenheit ändern. Auffälliges sieht er in diesem Wahllokal heute nicht. Doch auf Korizes Liste stehen 18 weitere, die er besuchen muss.

    Das Misstrauen der Menschen aber ist berechtigt. Während es in der Hauptstadt am Wahltag weitgehend ruhig bleibt, kommen aus anderen Teilen des Landes beunruhigende Bilder. Videos von Einschüchterung, Gewalt und Manipulation verbreiten sich in den sozialen Netzwerken. Schlägertrupps, mutmaßlich regierungsnah, bedrohen oder verprügeln oppositionelle Politiker, Journalisten und Beobachter. Ein Mann wird gefilmt, wie er ein Bündel Stimmzettel in eine Wahlurne stopft.

    Die Szenen ereignen sich in Regionen, in denen der „Georgische Traum“ nach den Auszählungen bis zu 90 Prozent der Stimmen erhält. Inzwischen hat die Zentrale Wahlkommission die Regierungspartei mit 54 Prozent zur Siegerin erklärt.

    Beobachter sprechen von systematischem Betrug

    Vorfälle wie diese sind ein Grund, warum ein Bündnis aus georgischen NGOs am Samstagabend nicht nur von „systematischem Betrug“ spricht, sondern eine „Annullierung der Wahl“ fordert. Inzwischen äußern weitere Wahlbeobachter Zweifel an den offiziellen Zahlen. So erklärt die „International Society for fair Elections and Democracy“ am Sonntag, dass die Verstöße einen erheblichen Einfluss auf den Ausgang der Wahlen gehabt haben könnten. Ähnlich beschreibt es ein Bericht von OSZE, EU-Parlament, Europarat und Nato. Darin heißt es unter anderem, dass vor und während der Abstimmung Druck auf die Wahlberechtigten ausgeübt worden sei. Es traf aber auch die Opposition, die weiter auf dem eigenen Sieg bei den Parlamentswahlen pocht.  

    Nana Malashkhia ist die wohl größte Gegnerin des „Georgischen Traums“. Sie sitzt am Wahltag im sechsten Stock eines Hochhauses unweit des Parlaments, umringt von Parteifreundinnen und -freunden. „Die Menschen sind bereit für den Wandel. Wir werden siegen“, gibt sie sich wenige Stunden vor Schließung der Wahllokale optimistisch. Malashkhia ist die Spitzenkandidatin des proeuropäischen Bündnisses „Koalition für den Wandel“, das mit 11 Prozent der Stimmen als stärkste Oppositionskraft aus den Wahlen hervorgehen wird. Doch sie ist keine normale Politikerin, sondern ein Symbol für den proeuropäischen Freiheitskampf, in dem Georgien sich schon bald wiederfinden könnte. 

    Vom Wasserwerfer ins Visier genommen

    Bei Protesten gegen ein russlandfreundliches Gesetz der Regierung im Frühjahr 2023 stand Nana Malashkhia mit einer EU-Fahne auf der Rustaveli Avenue in der ersten Reihe. Sie schwang die Flagge auch dann weiter, als ein Wasserwerfer der Polizei sie ins Visier nahm – und immer wieder traf. Das Bild ging um die Welt. „Ich war damals so wütend wegen der Zukunft, die uns verwehrt werden sollte“, sagt Malashkhia am Wahltag. Heute sei die Tür nach Europa für Georgien weit geöffnet. Sie, das betont Nana Malashkhia, werde kämpfen bis zum Ende. „Der Georgische Traum muss den Willen der Wähler akzeptieren.“

    Nana Malashkhia hatte große Hoffnungen.
    Nana Malashkhia hatte große Hoffnungen. Foto: Lukas Reinhardt

    Die Opposition selbst scheint bereit. Ob sie es schafft, die Menschen von der gestohlenen Wahl zu überzeugen, bleibt am Sonntagnachmittag offen. Bislang halten sich die Parteispitzen mit öffentlichen Aussagen zum weiteren Vorgehen weitgehend zurück. Nana Malashkhia hat angekündigt, ihr Parlamentsmandat aus Protest niederzulegen, weitere Politikerinnen und Politiker ihres Bündnisses sollen folgen. Für den Abend plant die proeuropäische Staatspräsidentin Salome Surabischwili eine gemeinsame Erklärung mit der Opposition. Ihrem Wort wird viel Gewicht zugeschrieben. Gleichzeitig ist sie die größte Widersacherin der Regierungspartei. So hatte der „Georgische Traum“ wiederholt angekündigt, Surabischwili des Amtes zu entheben und die größten Oppositionsparteien verbieten zu wollen. 

    Für die Demokratie in Georgien könnte es also schon bald um alles gehen. Womöglich wieder auf der gerade noch so friedlichen Rustaveli Avenue.

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