Zoe Edelman hat sich abseits von der Hauptgruppe der Demonstranten unter einen Baum gesetzt, um im Schatten abzukühlen. Immerhin hat es 34 Grad an diesem schwülheißen Tag in Washington, und die Kundgebung vor dem Kapitol läuft schon seit fast zwei Stunden. Doch die Schülerin ist bei der Sache. „Wir haben das Land aufgebaut. Wir sollten nicht wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden“, sagt die 16-Jährige.
Auf diese Forderung könnten sich wohl alle einigen, die mittags in Sichtweite des amerikanischen Kongresses protestieren – getrennt nur durch ein halbhohes Sperrgitter und die Kongresspolizei in demonstrativ leichter Montur. Wenige Kilometer weiter westlich, rund um das Weiße Haus, sieht es ganz anders aus: Dort sind Straßen gesperrt, es wimmelt von schwerbewaffneten Polizisten, Nationalgardisten und Militärs in Kampfanzügen. Die Demonstranten, die seit einer Woche ihre Stimme erheben, sind dieselben: Es sind Schwarze und Weiße und Farbige. Sie tragen T-Shirts, kurze Hosen und Mundschutz. Sie sind jung. Und beeindruckend friedlich.
"Lock him up!" fordern die Demonstranten und meinen Donald Trump
Wer die Bilder von brennenden Häusern in Minneapolis oder geplünderten Läden in New York im Fernsehen sieht, gewinnt leicht den Eindruck einer gewalttätigen Revolte in den USA nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd, der auf der Straße liegend qualvoll unter dem Druck eines Polizistenknies auf seinem Hals erstickte. Doch die Proteste in inzwischen allen US-Bundesstaaten sind überwiegend gewaltfrei. In der Hauptstadt kann man an diesem Tag einen Eindruck davon gewinnen: Hunderte versammeln sich mittags vor dem Kapitol und jubeln, als auch Polizisten im Gedenken an Floyd und aus Protest gegen Rassismus das Knie beugen. Tausende ziehen später am Trump-Hotel vorbei, während sie „Lock him up!“ („Sperrt ihn ein!“) skandieren. Und eine große Menge versammelt sich abends rund ums Weiße Haus, um zu den Lichtern ihrer Handys in einem Gänsehautmoment Bill Withers’ „Lean On Me“ anzustimmen.
Zoe Edelman ist immer dabei. „Ich bin seit sechs Tagen auf der Straße“, sagt die junge Frau mit dem „Black Lives Matter“-Armband. Sie weiß, dass sie privilegiert ist: Ihre Eltern sind Akademiker, die Hautfarbe der Tochter ist einen Ton heller als die der meisten Afroamerikaner. Trotzdem hat auch sie schon Anfeindungen von Mitschülern erlebt. Und sie war am Montagabend vor dem Weißen Haus, als die Polizei friedliche Demonstranten mit Tränengas und Blendgranaten beschoss, um den Lafayette Park für ein PR-Foto von Präsident Donald Trump zu räumen. „Die Menschen wurden vor den Beamten regelrecht vor sich hergetrieben. Das war wirklich furchterregend.“
Die Angst vor der Polizei sitzt vielen Afroamerikanern schon lange in den Knochen. „Mir ist nicht wohl, wenn ich so viel Polizei sehe“, gesteht Jesse Anyalabechi: „Die Sache hier könnte eskalieren. Und dann wäre mein Leben in Gefahr.“ Der 24-Jährige trägt Rastazöpfe unter der Basecap und arbeitet bei einer Politik-Beratungsfirma. Er kennt aus seinem Umfeld viele Fälle von Polizeigewalt: „Unbewusst erwarte ich, dass etwas passiert, wenn ich einem Polizisten begegne.“
Rassismus in den USA: "Unter Trump ist es schlimmer geworden"
Doch bei den Protesten geht es nicht nur um die Polizei. „Seit 400 Jahren hat Amerika ein Rassismusproblem“, sagt Anyalabechi: „Es ist allgegenwärtig auch bei der Bildung, der Wohnsituation und im Arbeitsleben. Die Leute sind es leid. Es muss etwas passieren.“ Vor ein paar Jahren, auf der Uni, hatte er ein Schlüsselerlebnis: Da spazierte er nachts durch die Stadt, als ein weißer Jugendlicher ihm sein Skateboard ins Gesicht schlug: „Als ich aufgestanden war und ihn fragte, warum er das gemacht hat, sagte er: Ich sähe so aus wie jemand, der ihn mal mit einer Waffe bedroht hatte.“
Warum der Protest ausgerechnet jetzt losbricht? Ganz kann es Anyalabechi nicht erklären. Sicher spielen die bedrückenden Videoaufnahmen von der Tötung Floyds eine wichtige Rolle, dessen Vergehen es war, eine Packung Zigaretten mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein zu bezahlen. Dann kommt die Corona-Pandemie dazu, die in doppelter Hinsicht überproportional viele Schwarze trifft – weil sie daran erkranken und weil sie ihren Job verlieren.
Und schließlich der Präsident: „Unter Trump ist es schlimmer geworden“, sagt Anyalabechi: „Nicht nur gewalttätige Polizisten, sondern alle weiße Amerikaner, die auf Schwarze herabschauen, fühlen sich nun ermutigt.“
Das Entsetzen über die brutale Polizeigewalt, die Empörung über den strukturellen Rassismus, der Widerstand gegen den Wutprediger im Weißen Haus - viele Motive kommen bei den Demonstranten zusammen. „Das ist eine sehr bunte Mischung“, sagt Anyalabechi. „Genug ist genug!“, skandieren sie und: „Das ist unser Parlament!“.
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