Den Satz auf dem Spruchband, das Demonstranten in die Luft halten, findet Djamila keineswegs zu hoch gegriffen. Nein, er stimmt sie hoffnungsfroh. „Die großen Revolutionen gehen aus kleinen Miseren hervor, so wie die großen Flüsse aus kleinen Bächen“, steht darauf. Nicht weniger als eine Revolution bahne sich in Frankreich an, glaubt die Frankoalgerierin. Der Aufstand der Bürger gegen ein eiskaltes, neoliberales System, das Präsident Emmanuel Macron verkörpere – so sieht sie das.
Die Zündflamme für diese Revolution, so sehen das viele, ist seine geplante Rentenreform. Der Widerstand gegen sie versammelt die Menschen auf der Straße, die genug von der krassen Ungerechtigkeit hätten, sagt Djamila. „Es ist doch nicht normal, dass manche im Müll nach Essbarem suchen, während andere im Luxus leben.“
Gemeinsam mit Freundinnen ist sie aus dem Vorort Drancy nach Paris gekommen, um sich dem Demonstrationszug anzuschließen. Sie haben das Auto genommen, denn es fahren kaum Busse, S-Bahnen oder Metros. Am Donnerstag und Freitag ist zudem in vielen Schulen der Unterricht ausgefallen, Anwälte und Richter waren im Ausstand, Flüge wurden gestrichen, in Krankenhäusern herrschte Minimaldienst, Ölraffinerien blieben geschlossen – der Generalstreik mobilisierte sowohl Angestellte des öffentlichen Dienstes wie auch der Privatwirtschaft und Selbstständige. Und das war erst der Anfang, heißt es.
Einer staunt: So etwas habe ich seit 20 Jahren nicht gesehen
„So etwas habe ich seit 20 Jahren nicht gesehen: Sogar die Chefs streiken“, staunt ein Zugkontrolleur. Die große Teilnahme erkläre sich aus dem sehr konkreten Thema Rente, sagt die Historikerin Danielle Tartakowsky: „Es hat immer stark mobilisiert, als eine der letzten Bastionen des Sozialstaates.“ Macrons Kritiker werfen ihm dessen Aushöhlung vor.
Laut Innenministerium gingen allein am Donnerstag landesweit 800.000 Menschen auf die Straße, davon 65.000 in Paris. Die Gewerkschaft CGT sprach sogar von mehr als 1,5 Millionen Demonstranten in ganz Frankreich und 250.000 in der Hauptstadt. Die Regierung befürchtet, dass der Widerstand ähnlich ausufern könnte wie 2010, als der damalige Präsident Nicolas Sarkozy das Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre hinaufsetzte. Und vor allem wie 1995.
Damals musste der konservative Premierminister Alain Juppé nach dreiwöchigen Blockaden seine Pläne, die Rentenversicherung der Beamten an jene der anderen Arbeitnehmer anzugleichen, zurückziehen. Zu stark war die Macht der Straße, um die Errungenschaften zu wahren, die im internationalen Vergleich relativ großzügig erscheinen: Die Franzosen gehen im Schnitt bereits mit 60,8 Jahren in Rente und haben im Schnitt gut 1600 Euro monatlich zur Verfügung. Das Einkommen der Rentner liegt sogar 3,2 Prozent über dem nationalen Durchschnitt. Abzüge wollen die Demonstranten aber nicht akzeptieren, die stolz auf ihre Protest-Tradition von der Französischen Revolution bis zum Mai 1968 verweisen. Arbeitgebervertreter bedauern hingegen, dass in Frankreich meist erst gestreikt und dann verhandelt wird – und nicht umgekehrt.
Demgegenüber präsentiert sich Präsident Macron als kühner Reformer gegen allen Widerstand. „In einer Demokratie ein Land zu führen heißt zu akzeptieren, nicht beliebt zu sein“, sagte er im Frühjahr, als die Krise der „Gelbwesten“ abzuflauen begann, die ihn monatelang unter Druck gesetzt hatten. Nachdem der Staatschef aufgrund seines wirtschaftsfreundlichen Kurses Anhänger der Linken, die bei der Präsidentschaftswahl 2017 noch für ihn gestimmt hatten, längst verloren hat, setzt er auf die Wähler, die er den Konservativen abspenstig machte. Sie würden es Macron kaum verzeihen, sollte er sein Versprechen einer Rentenreform brechen. Auch im Ausland erwartet man von ihm eine mutige Modernisierung des Landes. Nachdem er Reformen des Arbeitsmarktes, der Staatsbahn SNCF und der Arbeitslosenversicherung durchgesetzt hat, steht ihm mit diesem Projekt, das alle Franzosen betrifft und fast ebenso viele gegen ihn aufbringt, der wohl größte Härtetest bevor.
Zugleich kämpfen auch die französischen Gewerkschaften ums Überleben. Da nur noch knapp acht Prozent aller Angestellten gewerkschaftlich organisiert sind, treten die Arbeitnehmerorganisationen umso kompromissloser auf. Sie hatten das Nachsehen bei den Demonstrationen der „Gelbwesten“, die sich in den sozialen Netzwerken organisiert hatten und aus dem klassischen Protestschema ausbrechen wollten. Nun wirken die Arbeitnehmervertreter erstarkt. „Wir halten durch bis zur Rücknahme der Reform“, kündigt CGT-Generalsekretär Philippe Martinez an.
Der Streik in Frankreich geht weiter
Bis mindestens Dienstag geht der Streik weiter. Beschäftigte werden dazu angehalten, von zu Hause aus zu arbeiten. Opern- und Theatervorstellungen sind abgesagt. Die Restaurants am Pariser Nordbahnhof sind am Wochenende ungewohnt leer. Wenn keine Züge fahren, kommen auch kaum Menschen, um vor oder nach ihrer Reise noch etwas zu essen. Betroffen sind auch die Zugverbindungen von und nach Deutschland. Für wie lange, das ist ungewiss.
Trotz dieser Einschränkungen befürwortet eine Mehrheit der Franzosen den Ausstand. Das Recht zu streiken ist in der französischen Verfassung festgeschrieben. Paradoxerweise spricht sich ein ähnlich großer Anteil für eine Reform des unübersichtlichen Rentenversicherungssystems aus, das aus 42 verschiedenen Kassen besteht. Bestimmte Berufsgruppen, darunter die Angestellten der Bahn und der Pariser Verkehrsbetriebe RATP, profitieren von Sonderkonditionen und einem frühen Renteneintritt. Sie wehren sich besonders gegen Macrons Plan eines universellen Punktesystems, bei dem jeder eingezahlte Euro dieselben Rechte nach sich ziehen soll und die Menschen für eine Vollrente wohl insgesamt länger werden arbeiten müssen.
Die Regierung verspricht, dass sich die Situation für Geringverdiener, Landwirte und Mütter, die nach der Geburt ihrer Kinder ausgesetzt haben, verbessern wird. Weitere Details gibt sie an diesem Mittwoch bekannt – gestreikt wurde aber sicherheitshalber vorab. Der Druck wirkt: Nun heißt es, die neuen Regeln könnten erst für jüngere Menschen – beispielsweise ab der Generation Macron, der 1977 geboren ist – in Kraft treten und ein Abbau des Defizits der Rentenkasse in Höhe von 2,9 Milliarden Euro habe keine Priorität mehr.
Regierungssprecherin Sibeth Ndiaye verspricht, die Tür stehe „selbstverständlich offen für Verhandlungen“, und besonders anstrengende Arbeitsbedingungen wie Nachtarbeit würden berücksichtigt. Premierminister Édouard Philippe lobt die „gute Organisation“ der Demonstrationen. Die Regierung will sich nicht mehr Feinde machen, als sie ohnehin schon hat.
Warum stößt ihr Reformprojekt dennoch auf so viel Widerstand, für den die Streikenden auch finanzielle Abstriche in Kauf nehmen? Da ihr pro Streiktag 80 Euro vom Gehalt abgezogen werden, rechnet die Lehrerin Laure mit Einbußen von mindestens 240 Euro: „Aber ich bin bereit, Opfer zu bringen. Lieber verliere ich heute etwas Geld als die 600 Euro Pension, die mich diese Reform kosten dürfte.“ Das habe sie ausgerechnet.
Zwar hat Erziehungsminister Jean-Michel Blanquer den Lehrern per Brief eine Gehaltserhöhung und ein gesichertes Rentenniveau versprochen. Doch den Franzosen mangelt es an Vertrauen in ihre Regierung. Umfragen zufolge machen sich 71 Prozent von ihnen Sorgen um ihre Rente.
Ein Soziologe sagt: Das soziale Klima verdüstert sich
Der jetzige Widerstand resultiere aus dieser Unsicherheit und einer starken Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft, sagt der Soziologe Michel Vakaloulis: „Das soziale Klima verdüstert sich.“ Es habe schockiert, dass Macron die Reichensteuer abgeschafft und gleichzeitig die Wohnunterstützung für die Ärmsten gekürzt hat. Mangels einer glaubwürdigen Alternative entstehe das Gefühl einer „politischen Sackgasse“.
Die Oppositionsparteien kritisieren das Reformprojekt, dringen damit aber wenig durch. Was bieten sie an? Die Konservativen sind für eine Erhöhung des Rentenalters oder der Beiträge, der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon hält die Rente mit 60 für „ein seriöses Ziel und finanzierbar“, wenn die Gehälter steigen. Rechtspopulistin Marine Le Pen wirbt ebenfalls für die Rente mit 60 und das aktuelle System, „das gut funktioniert“.
Das sehen viele Demonstranten anders. Aber statt eines Abbaus der Ungerechtigkeiten befürchte er deren Verschärfung, sagt der Chirurg Pierre. „Meine Situation ist in Ordnung, aber ich sehe, dass viele Krankenpfleger mit ihrem geringen Gehalt kaum über die Runden kommen.“ Unter Macron habe sich die Lage in den Krankenhäusern weiter verschärft, so der 34-Jährige. Ihm geht es bei seinem Protest um etwas Grundsätzliches, nämlich um eine fairere Gesellschaft. Um eine Art Revolution von unten – so wie sie Frankreich schon erlebt hat.
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