Sergei Lawrow winkt ab. „Unsere Truppen werden ihr Vorgehen nicht künstlich an einem Datum ausrichten“, sagt der russische Außenminister. Sein Land werde am 9. Mai den „Tag des Sieges“ im Zweiten Weltkrieg feiern. Das Geschehen in der Ukraine hänge davon nicht ab. Sagt Lawrow.
Allerdings deuten immer mehr Zeichen darauf hin, dass am Montag genau das beginnen könnte, was der Minister bestreitet: eine neue, noch aggressivere Phase des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Selbst gemäßigte Prognosen zeichnen ein düsteres Bild. Demnach könnte Präsident Wladimir Putin am Montag die „Befreiung“ des Donbass und großer Teile der Südukraine verkünden, samt der zerbombten Hafenstadt Mariupol und einer Landbrücke zur 2014 annektierten Krim.
Am 9. Mai könnte Wladimir Putin zum großen Schlag ausholen
Das klänge nicht nur nach Sieg. Es würde dem Kreml auch erlauben, von der verlustreichen Offensive in einen Stellungskrieg überzugehen. Die Armee würde nur noch die eroberten Gebiete absichern. Zugleich brächte eine solche De-facto-Annexion neue Risiken mit sich. Denn Putin könnte anschließend alle ukrainischen Vorstöße in diese Gebiete als Angriff auf Russland werten. Das wiederum würde laut Moskauer Militärdoktrin den Einsatz von Nuklearwaffen erlauben. Dafür trommeln seit Tagen die Propagandisten der Staatsmedien auf nahezu allen Kanälen. „Öffnet die Silos“, lautet eine gängige Forderung in Talkshows, Leitartikeln und den Kommentarspalten von Onlinemedien. Zuletzt probten die russischen Streitkräfte in der Exklave Kaliningrad den Start ballistischer Raketen.
Doch es gibt noch eine pessimistischere Version. Demnach könnte Putin am 9. Mai den Kriegszustand ausrufen und eine Generalmobilmachung in Russland anordnen, um Zehntausende Reservisten an die Front „werfen“ zu können. Zu den Warnern gehört der britische Verteidigungsminister Ben Wallace, dessen Geheimdienste in ihren Einschätzungen zuletzt oft richtig lagen. Wallace befürchtet, dass Putin den „Tag des Sieges“ nutzen könnte, um die Bevölkerung auf einen „Krieg gegen eine Welt aus Nazis“ einzuschwören.
Das beträfe dann nicht mehr nur die Ukraine, die von Putins Propagandisten längst zu einem „faschistischen Staat“ erklärt worden ist. Vielmehr ginge es um die „Nato-Helfer der Nazis in Kiew“, von denen zuletzt in Moskauer Medien immer öfter die Rede war.
Russland will das historische Datum für seine Propaganda nutzen
Der 9. Mai bietet für propagandistische Auswüchse dieser Art einen idealen Orientierungspunkt. 1945 überreichte an diesem Tag das Oberkommando der deutschen Wehrmacht in Berlin die Kapitulationsurkunde an die Führung der Sowjetarmee. Seither ist der „Tag des Sieges“ in Russland einer der wichtigsten Feiertage des Jahres. Das gilt zwar auch für die Ukraine, Belarus und andere Nachfolgestaaten der UdSSR. Aber nirgendwo sind die nationalistischen Aufwallungen so stark wie in Russland, das sich unter Putin in der direkten Nachfolge des Imperiums wähnt.
Der Moskauer Politikwissenschaftler Sergei Medwedew spricht von einem „Kult“, der mittlerweile „Züge einer Zivilreligion“ trage. Die Trauer über die Toten des Weltkriegs, die den 9. Mai noch zur Jahrtausendwende geprägt habe, sei einer „militaristisch-patriotischen Show“ gewichen.
Genau deshalb hatten viele Beobachter erwartet, dass Putins Armee alles daransetzen werde, bis zum 9. Mai einen Sieg im Donbass zu erzwingen. Westliche Medien schrieben Anfang April von einer drohenden „gigantischen Panzerschlacht zur Einkesselung der ukrainischen Armee“. Doch es kam anders. An der Front zeigte sich bald, dass die russischen Truppen derzeit nicht über die Kampfkraft für eine solche Operation verfügen. Zu hoch waren die Verluste des Vorstoßes auf Kiew Anfang März. Um eine Großoffensive sicher zum Erfolg zu führen, bräuchte Russland mindestens dreimal so viele Soldaten wie die Ukraine, erklären Militärfachleute. Dieses Kräfteverhältnis sei aber bei weitem nicht gegeben.
Eine Studie des renommierten britischen Instituts für Sicherheitspolitik (RUSI) kommt daher nun zu dem Schluss: „Der 9. Mai scheint sich in der russischen Planung von einer Zielmarke zu einem Wendepunkt entwickelt zu haben, um mit einer breiteren Mobilisierung zu beginnen.“ Demnach haben die Moskauer Militärstrategen erkannt, dass es mehr Zeit und vor allem mehr Soldaten braucht, um den Osten und Süden der Ukraine zu erobern.
Das spräche für eine bevorstehende Mobilmachung, die Putin am „Tag des Sieges“ anordnen könnte. Die traditionelle Parade auf dem Roten Platz böte dafür den passenden Rahmen. Zumal der Kreml diesmal keine ausländischen Staatsgäste geladen hat. Die Veranstaltung, so wirkt es, soll sich ganz nach innen richten. Auch im apokalyptisch zerstörten, fast vollständig von russischen Truppen besetzten Mariupol ist offenbar eine Militärparade geplant.
Eine Generalmobilmachung birgt für Wladimir Putin auch Gefahren
Andere Fachleute weisen aber auch auf die innenpolitischen Gefahren einer Generalmobilmachung hin. Zumal ein solcher Schritt einer radikalen Abkehr von der bisherigen Strategie gleichkäme. Schließlich hat Putin den Angriffskrieg in der Ukraine von Beginn an als „Spezialoperation“ heruntergespielt. Bislang, so analysiert der Moskauer Soziologe Denis Wolkow vom unabhängigen Lewada-Zentrum, sei es dem Kreml durch eine Mischung aus Drohung und Beschwichtigung gelungen, die Bevölkerung in einem Zustand politischer Lähmung zu halten. Die Vorstellung, man könne „sowieso nichts ändern“, sei unter Kriegsgegnern ebenso verbreitet wie bei Befürwortern. „Dieses Gefühl erlaubt es den Menschen, das Geschehen nicht an sich heranzulassen.“ Mit dieser Form der Selbstbetäubung wäre es bei einer Mobilmachung schlagartig vorbei. Mit ungewissem Ausgang.