Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt, am Abend zuvor habe ihm jegliche Fantasie gefehlt. Fantasie dazu, wie das geplante Gespräch über ein friedliches Zusammenleben von Israelis und Palästinensern in Deutschland laufen werde. In welche Richtung werden die Diskussionen bei diesem schwierigen Thema gehen? Wird es genug Offenheit geben, um alle Fragen zu beantworten. Ratlosigkeit gepaart mit Unsicherheit. Es ist nicht leicht, in diesen Zeiten das Gewissen der Nation zu sein.
Mit dem Krieg in Nahost nimmt der Antisemitismus in Deutschland stetig zu. Zahlreiche Jüdinnen und Juden fühlen sich hier nicht mehr sicher. Aber auch viele Muslima und Muslime sind Anfeindungen ausgesetzt, stehen häufig unter Generalverdacht, die Terrororganisation Hamas zu unterstützen.
Steinmeier: "Wir werden Antisemitismus in diesem Land nicht dulden"
Der Bundespräsident hat sich dafür entschieden, ins Schloss Bellevue Menschen einzuladen, die Feindbilder aufbrechen, die dafür stehen, dass Juden und Muslime friedlich zusammenleben können. Ihr Vorbild will er bekannt machen. Zum Beispiel die Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun. Sie ist die Geschäftsführerin des Bildungsvereins Transaidency und hat mit Shai Hoffmann, einem Berliner Sozialunternehmer mit israelischen Wurzeln, ein Projekt gestartet, bei dem sie gemeinsam Berliner Schulen besuchen. Ihr Ziel: jungen Menschen Vorurteile aufzeigen. Durch ihre Projekte schaffen sie Raum für Jugendliche, um über den Nahostkonflikt zu sprechen. Als Ehrengast geladen ist die 102-jährige Berlinerin Margot Friedländer, die den Holocaust überlebte und seit vielen Jahren vor Jugendlichen über den Nationalsozialismus spricht.
Sowohl für Juden als auch für Muslime soll in Deutschland Platz sein
In seiner Ansprache sagt Steinmeier, es sei unerträglich, dass sich Jüdinnen und Juden 85 Jahre nach den Progromen des 9. November 1938 in Deutschland nicht wohlfühlten und Angst hätten, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Etwa weil Hausfassaden mit dem Davidstern beschmiert würden. Er sagt: "Wir werden Antisemitismus in diesem Land nicht dulden. Keinen alten und keinen neuen. Keinen christlichen und keinen muslimischen, keinen linken und keinen von rechts."
Gleichzeitig wendet er sich auch an die palästinensische und an die gesamte arabische Gemeinschaft und signalisiert: Sie alle sollen Raum in Deutschland haben, um ihren Schmerz und ihre Verzweiflung über die Opfer in Gaza zu zeigen und zu äußern.
Vor allem zwei Dinge sind wichtig: zuhören und Empathie zeigen
Jouanna Hassoun sagt, es sei wichtig, dass sich Menschen aus palästinensischen Communities nicht an den Rand gedrängt fühlten. "Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Anrufe ich aktuell von muslimischen Menschen bekomme, die das Gefühl haben, aus Berlin weggescheucht zu werden." Aktuell würden Shai Hoffmann und sie für die Bildungsprojekte an Schulen alles stehen und liegen lassen, um junge Menschen aufzufangen. Um zu informieren, aber auch, um sowohl jüdischen als auch palästinensischen Jugendlichen zu zeigen: Sie dürfen in Deutschland und Berlin sein. Sie dürfen sprechen. Und sie haben auch ein Recht darauf, dass andere Menschen ihnen zuhören und Empathie entgegenbringen.
Laut Hoffmann gibt es keinen Konflikt auf der Welt, der bereits so lange andauert, der so viele Emotionen auslöst wie der Nahost-Konflikt. "Es ist wichtig, bedingungslos zu akzeptieren, dass jemand Schmerz empfindet. Ganz egal, ob der- oder diejenige einer jüdischen oder palästinensischen Community angehört." Den Konflikt könnten Einzelpersonen ohnehin nicht lösen. Was aber möglich sei: Empathie zeigen. Und zwar bedingungslos.
Politik und Gesellschaft müssen Grundvoraussetzungen für Frieden in Deutschland schaffen
Nach der Diskussionsrunde mit seinen Gästen sagt Steinmeier: "Ich bin beeindruckt von so viel Offenheit." Die Runde sei erst der Anfang gewesen. "Das Thema wird bleiben." Es scheint, als sei seine Unsicherheit des Vorabends von einem anderen Gefühl abgelöst worden: Zuversicht. Darin, dass Politik und Gesellschaft dazu beitragen können, mit Initiativen und Projekten wie jenen seiner Gäste dem Hass entgegenzutreten. Es ist ein kleiner Anfang, aber er ist gemacht.