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Gazastreifen: "Nie wieder" gilt nicht mehr: So erleben die Menschen in Israel den Terror

Die Angriffe der Hamas haben Israel ins Mark getroffen.
Gazastreifen

"Nie wieder" gilt nicht mehr: So erleben die Menschen in Israel den Terror

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    Antje Naujoks schläft keine Nacht mehr länger als drei oder vier Stunden. Be'er Scheva, eine Stadt mit 220.000 Einwohnern am Rande der Wüste Negev, liegt nur 40 Kilometer Luftlinie vom Gazastreifen entfernt, entsprechend häufig hat es in den vergangenen Tagen hier Luftalarm gegeben. Gerade war sie im Supermarkt, Süßigkeiten für eine Gruppe junger Deutscher kaufen, die nach dem Abitur ein Freiwilliges Soziales Jahr im Kinderheim „Neve Hanna“ ableisten, in dem sie arbeitet. „Nervennahrung“, sagt

    Damals hat sie mit den jungen Deutschen noch am ersten Tag die üblichen Routinen durchgespielt, ihnen den Schutzraum gezeigt und den Sicherheitsbeauftragten des Heims vorgestellt. Weil den Menschen in Kyriat Gat bei einem Raketenalarm nur 35 Sekunden bleiben, um sich in einen Schutzraum zu flüchten, hat sie die Neuankömmlinge anschließend in ihre Betten geschickt, sie auf Kommando wieder herausgejagt und dann die Zeiten gestoppt, die sie brauchen, um sich in Sicherheit zu bringen. 

    Inzwischen ist aus der kleinen Übung gefährliche Wirklichkeit geworden. „Aber keiner von uns“, sagt Antje Naujoks, „hat mit so etwas gerechnet.“ Stunden über Stunden saß sie in dem Schutzraum ihrer Wohnung hinter der dicken Metalltür, teilweise ohne Strom, im Dunkeln, und der Akku des Handys langsam zur Neige gehend. Und hatte dabei Glück im Unglück. In den Orten entlang des Gazastreifens türmen sich die Leichen zu Bergen, viele Häuser sind nicht mehr als rauchende Trümmer. Auf einem Musikfestival hat die Hamas ein regelrechtes Massaker angerichtet. Immer neue, immer grauenvollere Details werden öffentlich. Von enthaupteten Säuglingen ist die Rede. Mehr als 900 Menschen starben, 2600 sind verletzt. Naujoks sagt: „Wir sind überrannt worden.“ 

    Israel steht nach den Angriffen der Hamas unter Schock

    "Am Morgen des 7. Oktober - ein Datum, das als einer der dunkelsten Tage des jüdischen Volkes in die Geschichte eingehen wird - ist Israels Sicherheitskonzept zerbröckelt, als Hamas-Terroristen über, unter und um den Gaza-Grenzzaun strömten", schreibt die Times of Israelam Dienstag. Drei Tage sind vergangen seit dem schlimmsten Blutbad unter israelischen Zivilistinnen und Zivilisten an einem Tag seit dem Unabhängigkeitskrieg 1948. Eine historische Demütigung. Das Land ist nach dem Überraschungsangriff der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas in einem tiefen Schockzustand. Kein Land ist besser auf Terrorangriffe vorbereitet als Israel. Kein Land hat einen effektiveren Geheimdienst.

    Auch jetzt, da die israelische Armee die Lage langsam unter Kontrolle zu bringen scheint, ist die Angst vor einem neuen Raketenangriff allgegenwärtig. Es könne sein, sagt Antje Naujoks, dass sie das Telefonat dann abbrechen und rechts ranfahren müsse, um sich hinter ihrem Auto auf den Boden zu legen. Eigentlich ist die gelernte Politologin eine Frau, die so leicht nichts aus der Ruhe bringt. Nun aber räumt auch sie ein: „Die Nerven liegen blank.“ Zuhause hat sie eine Tasche mit dem Allernötigsten gepackt, Pass, Bargeld, ein paar gute Schuhe, falls sie längere Strecken zu Fuß bewältigen muss, dazu ein Ersatzakku – gepackt in der Hoffnung, nie nach der Tasche greifen und das Land verlassen zu müssen, das ihr längst zur Heimat geworden ist.

    Israel bereitet sich auf einen langen Krieg vor

    Im Supermarkt, aus dem sie gerade kommt, ist ihr allerdings auch noch etwas anders aufgefallen. Wo immer sich in Israel eine Schlange bildet, geht es normalerweise nicht allzu freundlich, ja manchmal fast ruppig zu. Israelis sind keine geduldigen Menschen und haben es beim Einkaufen eigentlich immer eilig. Nun aber, sagt Antje Naujoks, erlebe sie immer häufiger eine neue Freundlichkeit, Leute, die sich brav anstellen oder andere wie selbstverständlich vorlassen: „Bitte“. – „Danke.“ – „Na klar.“ Mit dem Angriff der Hamas, sagt sie, sei das über die umstrittene Justizreform zutiefst entzweite Land wieder eng zusammengerückt. Ob Juden, Christen, Muslime oder Drusen: „Ich sehe viel Solidarität.“ Alle hielten zusammen. Im Moment verbinde die Menschen in Israel vor allem ein Gefühl: „Wir haben nur dieses eine Land.“ Irgendwann, wenn dieser Krieg vorbei ist, würden sich auch alle wieder kabbeln, prophezeit Antje Naujoks.

    Doch wann das ist, das vermag im Moment kaum jemand zu sagen. Die Regierung um Benjamin Netanjahu rüstet sich für einen langen Kampf. Immer wahrscheinlicher wird, dass es diesmal mit gezielten, aber begrenzten militärischen Schlägen gegen die Hamas nicht getan sein wird. Genau darin bestand die Strategie der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Immer wenn es zum Konflikt gekommen war, traf Israels Armee die Terrororganisation gerade so schmerzhaft, dass diese Jahre brauchte, um sich wieder zu bewaffnen. Ein blutiger Kreislauf, an den sich das Land und seine Einwohner gewöhnt hatten. Doch diesmal ist die Stimmung anders. Die pragmatische Gelassenheit ist verschwunden, die Überzeugung, stärker zu sein als der Feind, massiv beschädigt. „Was die Hamas begangen hat, ist ein unfassbarer terroristischer Akt, das stellt ein fürchterliches Kriegsverbrechen dar“, sagt Stephan Stetter, Nahostexperte und

    Kommt es zur Bodenoffensive im Gazastreifen?

    Entsprechend stark fallen die Reaktionen aus. Der Gazastreifen wurde komplett abgeriegelt. Kein Trinkwasser, kein Benzin, kein Strom, keine Lebensmittel werden die Grenze passieren. Es könnte noch der schwächere Teil der israelischen Antwort sein. „Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein. Wir sind erst am Anfang“, droht Netanjahu. Er scheint zu allem bereit. Sein Trumpf liegt auf der Hand: Seine Armee ist in Relation zur gerade einmal neun Millionen Menschen umfassenden Bevölkerung größer als in den meisten anderen Ländern dieser Welt. 300.000 Reservisten wurden mobilisiert, 173.000 Soldatinnen und Soldaten stehen bereit, Freiwilligenmilizen werden mit Waffen ausgerüstet.

    Israelische Streitkräfte bergen die Leichen israelischer Bewohner aus einem zerstörten Haus.
    Israelische Streitkräfte bergen die Leichen israelischer Bewohner aus einem zerstörten Haus. Foto: Ilia Yefimovich, dpa

    Noch fliegen nur Raketen über den inzwischen löchrigen Grenzzaun. Doch es scheint eine Frage der Zeit zu sein, bis der nächste Schritt folgt. „Ich bin mir sicher, dass es eine Bodenoffensive geben und Israel im Gazastreifen einmarschieren wird“, sagt Stetter. „Aber worüber sich meiner Meinung nach auch die israelische Regierung noch nicht im Klaren ist, sind das Ausmaß, das eine Bodenoffensive haben soll und die politischen Ziele, die man durchsetzen möchte.“ Netanjahu versucht, eine Kriegsregierung zu bilden, in die auch die Opposition eingebunden wird. Die aber dürfte Forderungen stellen. Auch das Leben der mehr als 100 israelischen Geiseln, die sich im Gazastreifen befinden, dürfte eine Rolle spielen bei den strategischen Überlegungen. Die Organisation werde für jeden unangekündigten israelischen Luftangriff eine Geisel ermorden, droht ein Sprecher der Hamas.

    Hamas hat die Rückendeckung der Palästinenser

    Und dann sind da noch die Palästinenser selbst. Der Gazastreifen ist eine der am dichtesten besiedelten Regionen der Welt. Zwei Millionen Menschen leben dort auf einer Fläche, die halb so groß ist wie Hamburg, fast die Hälfte der Einwohner ist jünger als 18 Jahre. Die Menschen dort sind der Hamas ausgeliefert, allerdings hat sie auch Unterstützung. „Der sogenannte Widerstand gegen Israel hat bei vielen Menschen eine ganz hohe Legitimation“, sagt Stetter. Und die Hamas habe bewiesen, dass sie zu militärischen Kampagnen fähig ist, die sogar einen der besten Geheimdienste alt aussehen lassen. „Zur Wahrheit gehört außerdem, dass Benjamin Netanjahu viel dafür getan hat, dass die

    Nun herrscht die Sorge, der Konflikt könnte noch größer werden. Längst ist die Lunte am Pulverfass Nahost angekokelt – und könnte einen Flächenbrand verursachen, der sich nur schwer eindämmen lässt. „Dieser

    Gaza-Stadt: Eine Luftaufnahme von beschädigten und zerstörten Gebäuden nach israelischen Luftangriffen.
    Gaza-Stadt: Eine Luftaufnahme von beschädigten und zerstörten Gebäuden nach israelischen Luftangriffen. Foto: Mohammed Talatene, dpa

    Und dann ist da ja noch der Rest einer unseligen Achse. Russland empfängt Präsident Mahmoud Abbas und signalisiert damit Unterstützung für die Palästinenser. Die Washington Post berichtet, dass der Iran an der Vorbereitung des Terrorangriffs beteiligt gewesen sei. Die Planungen hätten mindestens schon Mitte 2022 begonnen, schreibt die Zeitung am Dienstag unter Berufung auf Erkenntnisse von Geheimdienst-Analysten. Der Iran als Hauptfeind Israels ist wiederum spätestens seit Beginn des Ukraine-Krieges zu einem engen Verbündeten Moskaus geworden. Überall laufen Fäden zusammen. Washington wiederum schickte einen Flugzeugträger ins östliche Mittelmeer und ist fortan nicht mehr nur stärkster Unterstützer der Ukraine, sondern auch Israels. 

    Und Deutschland? Die deutsche Politik kann niemals Zuschauer sein, wenn es um die Sicherheit Israels geht. Das machte Angela Merkel in ihrer Rede vor der Knesset 2008 deutlich. Nach einigen einleitenden Sätzen auf Hebräisch redete Merkel auf Deutsch, dagegen hatte es zuvor Proteste gegeben. „Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes“, sagte Merkel damals. „Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.“

    Ihr Nachfolger Olaf Scholz wiederholte den Satz vor wenigen Tagen. Doch was bedeutet das genau? Israel notfalls militärisch zu helfen? Bislang gelingt es der Polizei in Berlin-Neukölln und Duisburg gerade mal mit Mühe und Not, jubelnde Pro-Hamas-Demonstranten in die Schranken zu weisen.

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