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Gastro-Krise: "Heute gilt schon als Stammgast, wer einmal in der Woche kommt"

Gastro-Krise

"Heute gilt schon als Stammgast, wer einmal in der Woche kommt"

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    Blick in eine Kultkneipe: Die Kupferkanne in Berlin-Schöneberg hält sich bisher.
    Blick in eine Kultkneipe: Die Kupferkanne in Berlin-Schöneberg hält sich bisher. Foto: Jörg Carstensen, dpa

    Herr Franz, aktuelle Zahlen belegen, dass die Zahl der Gastro-Betriebe drastisch zurückgeht. Besonders betroffen scheinen klassische Wirtshäuser und Kneipen zu sein. Woran liegt das? 
    MARTIN FRANZ: Die Nachfrage, das Ausgehverhalten hat sich grundlegend verändert. Die Kneipe an der Ecke oder eben auch das Wirtshaus, das grundsätzlich jeden ansprechen wollte, das funktioniert nicht mehr. Wenn die Leute heute ausgehen, dann wollen sie etwas Spezielleres. Unsere Zeit ist geprägt von Individualisierung: Wir wollen uns von anderen dadurch absetzen, wie wir uns kleiden, was wir einkaufen – und wie wir konsumieren. Wir essen vielfältiger, wir trinken vielfältiger. Wo es früher vielleicht eine Biersorte gab, gibt es heute sechs oder sieben und am besten noch Cocktails und eine Whiskey-Karte. Die Menschen wollen Auswahl, auch wenn sie diese gar nicht nutzen.

    Also: Spezialitäten-Lokale statt der guten alten Schankwirtschaft?
    FRANZ: Es gibt durchaus noch Kneipen, aber viele haben sich der veränderten Nachfrage angepasst. Wer heute ausgeht, möchte auch essen. Viele Gaststätten haben ihr Speisenangebot so ausgeweitet, dass sie gar keine richtigen Kneipen mehr sind. In der Branche zeigt sich der Wandel übrigens auch an der Gestaltung der Lokale. 

    Die Kupferkanne ist eine typische Berliner Eckkneipe.
    Die Kupferkanne ist eine typische Berliner Eckkneipe. Foto: Jörg Carstensen, dpa

    Inwiefern?
    FRANZ: In modernen Gaststätten gibt es viel Platz und gemütliche Sessel statt der Holzbank, auf der möglichst viele dicht zusammenrückten. Die traditionelle Kneipe war von außen nicht einsehbar, man wollte beim Trinken nicht gesehen werden, saß hinter Bleiglas, vielleicht sogar noch mit Gardine davor. Heute ist das genau umgekehrt: Man sitzt quasi gerne im Schaufenster, während man trinkt, es geht ums Sehen und Gesehenwerden. 

    Hat sich auch das Publikum verändert? 
    FRANZ: Verändert hat sich, wer als Stammgast gilt. Das war früher jemand, der vier- oder fünfmal in der Woche in der Kneipe war. Heute ist ein Stammgast jemand, der einmal die Woche vorbeikommt. Ein Wirt hat mir sehr lebhaft erzählt, dass er heute Menschen als Stammgast bezeichnet, die er früher nicht mal wiedererkannt hätte. Die Leute gehen einfach weniger aus. 

    Warum?
    FRANZ: Wir haben es uns schön gemacht zu Hause. Unsere Wohnungen und Häuser sind größer geworden, die Fernseher auch. Wir haben das Internet, wir haben mittlerweile nicht mehr nur einen Streamingdienst, sondern mehrere. Das muss ja alles auch genutzt werden. 

    Wenn vom Wirtshaussterben die Rede ist, schwingt oft Trauer um den Verlust eines Ortes mit, der wichtige gesellschaftliche Funktionen übernommen hat. Brauchen wir solche Räume nicht mehr? 
    FRANZ: Diese Funktionen werden entweder anders erfüllt oder nicht mehr so gesucht. Das Wirtshaus war zum Beispiel ein wichtiger Ort des Nachrichtenaustauschs. Diese Funktion hat mittlerweile sehr stark das Handy übernommen. Der Stammtisch steht sprichwörtlich für einen deftigen Schlagabtausch, hatte aber auch eine Funktion von sozialer Kontrolle, die es im Internet nicht mehr gibt. Heute muss man sagen: Es wäre schön, wenn es wieder mehr Stammtische gäbe, an denen sich die Leute aus dem Viertel die Köpfe aneinanderstoßen, aber wo auch deutlich gemacht wird, was eben nicht akzeptabel ist. 

    Dass Lokale schließen, ist vor allem ein Phänomen in ländlichen Gegenden, oder täuscht der Eindruck?
    FRANZ: Es gibt einen großen Trend zur Zentralisierung. An belebten Standorten in zentralen Lagen bekommen wir immer mehr Betriebe und aus der Fläche, aus den Stadtteilen und Dörfern, verschwinden sie. Heute ist man bereit, für die Freizeitgestaltung viel weitere Wege auf sich zu nehmen. Man fährt in ein besonderes Fitnessstudio, statt zum Sportverein um die Ecke zu gehen. Genauso ist es bei der Gastronomie: Man will zu dem bestimmten Italiener, dem bestimmten indischen Restaurant. Und fährt dafür halt auch mal zehn Kilometer.

    Wird politisch aus Ihrer Sicht genug für die Gastronomie getan?
    FRANZ: Da hat Corona als heilsamer Schock gewirkt. Vor der Pandemie war in der Politik die Annahme weitverbreitet, dass man sich um die Gastronomie eigentlich nicht kümmern muss, weil sie von selbst funktioniert. Dann ging es dieser Branche plötzlich ganz schlecht und vielen Lokalpolitikern wurde bewusst, wie wichtig eine funktionierende Gastronomie für die Attraktivität einer Stadt ist. Viele Kommunen haben angefangen, Wirte nach ihren Bedürfnissen zu fragen und ihnen zuzuhören. Mein Eindruck ist, dass das immer noch anhält.

    Martin Franz forscht an der Universität Osnabrück dazu, wie große gesellschaftliche Veränderungen die Wirtschaft prägen.
    Martin Franz forscht an der Universität Osnabrück dazu, wie große gesellschaftliche Veränderungen die Wirtschaft prägen. Foto: Elena Scholz

    Zur Person

    Martin Franz ist Professor für Human- und Wirtschaftsgeografie an der Universität Osnabrück. Er ist in Wesel am Rand des Ruhrgebiets aufgewachsen. Damals gab es in seinem Stadtviertel acht Kneipen, davon ist eine übrig geblieben. 

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