Die gute Nachricht vorneweg – sie lautet: Die amerikanische Demokratie, die älteste der Welt, funktioniert noch. Alles spricht dafür, dass ein demokratischer Machtwechsel gelingt. Um Donald Trump dagegen ist es einsam geworden. Es ist die Einsamkeit des Narzissten, der seine Umwelt als Spiegel für das eigene Ego missbraucht und am Ende keine wirklichen Freunde mehr hat.
Seine verzweifelte Justizkampagne wird mangels Unterstützung ins Leere laufen. Denn seine republikanischen Weggefährten fragen sich schon jetzt, womit sie sich mehr schaden: indem sie Trump unterstützen oder sich in die Niederlage fügen. Auch wenn die kommenden Wochen noch begleitet sein mögen von Gerichtsurteilen, Neuauszählung von Stimmen und Protesten auf der Straße: Kassandrarufe, es werde zu einem Totalzusammenbruch der amerikanischen Rechtsordnung kommen, erweisen sich als verfehlt. Grundlos sind sie jedoch nicht.
Denn diese Wahl hat einmal mehr die tiefen gesellschaftlichen Gräben in den USA offenbart, und das nicht nur, weil Trump aufgrund des absurd archaischen Wahlsystems doch noch fast den Sieg errungen hätte. Nein, in den USA bündeln sich wie in einem Brennglas jene Spannungen und Strukturprobleme, welche die westlichen Demokratien im Allgemeinen während der letzten vierzig Jahren aufgehäuft haben. Nicht zum ersten Mal in der Geschichte weist die amerikanische Entwicklung damit über sich hinaus. Sie steht beispielhaft für Zustand und Zukunft der westlichen Demokratien. Gleichsam wie ein Spiegel führt sie den Europäern ihre Einbußen und Versäumnisse, Chancen und Hoffnungen vor Augen.
Wirtschaftlich hat insbesondere die Deindustrialisierung tiefe Spuren hinterlassen. Seit den späten 1970er-Jahren büßte die amerikanische Industrie ihre Wettbewerbsfähigkeit großenteils ein. Viele Millionen industrieller Arbeitsplätze fielen weg, sei es in der Stahlindustrie Pennsylvanias, der Glasindustrie Ohios oder der Autoindustrie in Detroit/Michigan. Mit den Folgen haben die USA bis heute zu kämpfen. Allzu viele Familien verloren mit dem industriellen Arbeitsplatz auch ihre Identität; allzu viele Nachbarschaften erodierten durch den Wegfall der Industriestruktur oder verödeten sogar. Das alles ist in Europa bestens bekannt. Man denke nur an Nordengland oder Ostfrankreich, an das Ruhrgebiet oder die ostdeutschen Bundesländer oder auch an eine Stadt wie Augsburg, deren traditionelle Textilindustrie binnen kurzer Zeit verschwand.
Die Politik unterschätzte die Langzeit-Folgen der Deindustrialisierung
Die Politik reagierte vor allem auf die kurzfristigen Herausforderungen des Arbeitsmarkts und unterschätzte die sozio-kulturellen Langzeitfolgen der Deindustrialisierung. Das machte sich Trump zunutze. Viele seiner Wähler waren weiße Männer ohne höhere Bildung, die sich von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt fühlten. Und Trump versprach ihnen, man könne gleichsam in die 1950er-Jahre zurück, mit amerikanischen Arbeitern, die mit amerikanischem Kapital amerikanische Brücken, Straßen und Maschinen bauen. Zu Zeiten der internationalen Verflechtung und Globalisierung ist das freilich eine nationalistische Illusion.
Lebensweltlich betraf die Deindustrialisierung nur eine starke Minderheit in bestimmten Regionen, während die Mehrheit sie gar nicht spürte. Sie verstärkte somit alte Ungleichheiten und riss zugleich neue Gräben auf. Weiter vertieft wurden die Spaltungen durch das Modernisierungskonzept, mit dem Politik und Wirtschaft, Think Tanks und Berater auf die Krise reagierten. Es sind kurz gesagt die Rezepte des Neoliberalismus, die in den USA am prominentesten zur Geltung kamen. Auf der einen Seite hieß dies: Priorität für den Markt, Liberalisierung und Deregulierung, freie Bahn dem Tüchtigen.
Auf der anderen Seite aber lautete der Imperativ an den Einzelnen: Werde flexibel, vergiss den lebenslangen Arbeitsplatz, bilde dich fort, verbessere deinen Auftritt, übernimm Eigenverantwortung, kurz: Werde zum erfolgreichen Knowledge-Worker auf dem postindustriellen Arbeitsmarkt, wie es Peter Drucker, der Guru der Unternehmensberatung, regelmäßig forderte. Als wichtigste Antwort auf die soziale Ungleichheit predigte man daher Bildung und digitale Fortbildung, ohne freilich genau zu wissen, wieweit dies die gemeinten Zielgruppen überhaupt erreichte.
Deindustrialisierung und Digitalisierung sind kein Nullsummenspiel. Im Ergebnis erzeugte der Neoliberalismus eine neuartige Verbindung von Technokratie, elitärer Leistungsgesellschaft und Zumutungen an den Einzelnen. Gemeinwohlorientierung und die genuin liberale Idee des sozialen Aufstiegs durch Verdienst wurden dagegen, wie der Sozialphilosoph Michael J. Sandel kürzlich feststellte, zurückgedrängt. Und ist nicht ohnehin der amerikanische Traum schon längst ausgeträumt?
Auch die amerikanische Gesellschaft ist keine „Fahrstuhlgesellschaft“ mehr, in der die soziale Ungleichheit zwar bestehen bleibt, aber doch alle gemeinsam nach oben fahren. Sie ist, um im Bilde zu bleiben, zu einer Paternoster-Gesellschaft mutiert. In ihr fährt die eine nach oben und der andere nach unten, ohne dass die Fahrtrichtung von persönlicher Leistung und Verdienst abhinge.
Trump hätte gute Chancen auf eine Wiederwahl gehabt
Alles dieses sind Erfahrungen und Wahrnehmungen, die über die frühere Industriearbeiterschaft weit hinausgehen und längst auch in Europa in der Mittelschicht und ihren Abstiegsängsten angekommen sind. Hieraus erklärt sich ein Großteil der gesellschaftlichen Wut, mit der sich in allen westlichen Demokratien die Amts- und Mandatsträger konfrontiert sehen. Donald Trump war 2016 ihr größter Profiteur. Und hätte er sich als Präsident nicht selbst mit seiner grotesken Amtsführung ad absurdum geführt, wäre er wahrscheinlich wieder gewählt worden.
Aber die strukturellen Problemlagen existierten schon vor Trump und werden nach seiner Abwahl nicht einfach verschwinden. Vielmehr sind sie grundsätzlicher und langfristiger Natur. Die amerikanischen Parteien jedenfalls haben bislang nur wenige Antworten hierauf gefunden. Die Demokraten blieben allzu sehr ihren elitär-liberalen Hochburgen verhaftet. Die Republikaner dagegen waren schon vor 2016 einem tiefgreifenden Zerfallsprozess unterworfen. Er ermöglichte es überhaupt erst, dass Trump Partei und Präsidentschaft kaperte.
Man erinnere sich an die Tea-Party- und die Alt-Right-Bewegung am äußeren ideologischen Rand der Rechten oder auch an Gestalten wie Sarah Palin, die frühere Gouverneurin von Alaska, die kurzfristig zur republikanischen Zukunftshoffnung avancierte. Oder auch an Phyllis Schlafly, die Ikone des amerikanischen Rechtskonservatismus, die sich 2016, im Alter von 91 Jahren, massiv und erfolgreich für Trump aussprach, und zwar ausgerechnet aus christlich-religiösen Gründen. Und man erinnere sich an George W. Bush und daran, welche Euphorie durch die Welt ging, als Obama sein Nachfolger wurde.
Joe Biden freilich ist ein bisschen älter und weniger charismatisch als Obama, dessen Präsidentschaft ihre Versprechen nicht hielt. Daher sollte man von Biden auch nicht zu viel Neuanfang, geschweige denn Wunder erwarten. Seine Aufgabe wird es zunächst sein, im Innern wie nach außen Scherben zusammenzukehren und dort neues Vertrauen zu gewinnen, wo vier Jahre Reality TV im Weißen Haus den Glauben an jegliche Rationalität amerikanischer Politik erschütterten. Das ist Bidens Aufgabe, die Chance der USA und die Hoffnung Europas.
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