Die Nachrichten von der Ostgrenze der Ukraine werden immer schriller. Beabsichtigt Putin eine „Invasion“ der Ukraine und folgt ein heißer Krieg in Europa? Das Wort „Krieg“ ist in die Alltagssprache zurückgekehrt. Für jemanden wie mich, der den Zweiten Weltkrieg noch mit Waffen in der Hand erlebt hat, ist das ein Aufruf zur Einmischung.
Die Ukraine ist seit dem Fall der Mauer 1989 für die USA ein wichtiger geopolitischer Baustein auf dem eurasischen Kontinent. Aber als ehemaliges Staatsgebiet Russlands stößt das in Moskau auf besondere Sensibilität. Putin sieht hier eine „helle rote Linie russischer Interessen“ berührt. William Burns, CIA-Chef unter US-Präsident Joe Biden und ehemals US-Botschafter in Moskau, schrieb 2019, er habe nicht einen Russen getroffen, der das nicht so sehe. Jetzt droht Putin im Falle weiterer Schritte der Nato in Richtung Russland mit militärischen Konsequenzen.
Der Westen hatte 2008 der Ukraine gegen deutschen und französischen Widerstand einen Beitritt zur Nato versprochen. Die Ukraine mag einen moralischen Anspruch haben, vom Westen Schutz gegenüber Russland zu erfahren, wie dies für Finnland oder Österreich besteht. Aber einen Anspruch, der Nato förmlich beizutreten, auch wenn das den Sicherheitsinteressen Europas widerspräche, einen solchen Anspruch kann es nicht geben.
Die Situation ist verwirrend: Nato-Generalsekretär Stoltenberg forciert den Beitritt, aber der Vorsitzende der Münchener Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger schrieb schon 2018 in seinem Buch „Welt in Gefahr“: „Die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ist im Bündnis de facto längst negativ entschieden worden. Dass die Regierung in Kiew die Hoffnung dennoch nicht aufgeben will, ist zwar verständlich, hilft aber nicht weiter. Hier gilt es, politische Alternativen zur Nato-Mitgliedschaft zu entwickeln, etwa indem sich die Ukraine, dem Beispiel Finnlands, Schwedens oder Österreichs folgend, als West-Ost-Brücke definiert.“ Russland brauche eine „Finnlandisierung der Ukraine“ zur Abwendung der Gefahr eines „heißen“ Krieges in Europa, hatte 2014 auch der bedeutende US-amerikanische Außenpolitiker Zbigniew Brzezinski geschrieben.
Warum sagt man Putin nicht klipp und klar, was Sache ist?
Wie lässt sich dieser Widerspruch zwischen dem Nato-Generalsekretär Stoltenberg und zwei so sachkundigen politischen Strategen erklären? Warum sagt man Putin nicht klipp und klar, dass die Sache im Westen längst negativ entschieden sei? Es sind offenbar innenpolitische Gründe der USA, die den Westen blockieren. Ende 2022 werden in Amerika das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt. Präsident Biden befindet sich also nur ein Jahr nach seiner Amtsübernahme schon wieder in einem bundesweiten Wahlkampf. Und in den USA haben sich zwei Parteien herausgebildet, die kaum Kompromissbereitschaft zeigen und sich in einem knappen Kopf-an-Kopf-Rennen unversöhnlich gegenüberstehen. Diese innenpolitische Lage in den USA dirigiert heute die Außen- und Sicherheitspolitik des westlichen Bündnisses. Und dieser Zusammenhang erklärt auch die Blockade der Verhandlungen mit dem Iran. Republikanische Falken schüchtern den demokratischen Präsidenten ein.
Die innere Spaltung der USA lähmt auch die europäische Handlungsfähigkeit, denn in der Nato zählt letztlich nur das Wort der USA. Der Hegemon USA, dessen Außen- und Sicherheitspolitik derart einseitig von innenpolitischen Wahlaussichten abhängt, wird zu einem Hindernis für den Frieden im von ihm beherrschten Europa. Wahlen alle zwei Jahre zwingen die USA zu ständiger innenpolitischer Rücksichtnahme in der Außenpolitik. Es ist dieser Zusammenhang, der den heutigen Zustand der Ukraine-Politik erklärt. Denn wie Wolfgang Ischinger 2018 schrieb, ist man ja längst zu der Einsicht gekommen, dass aus Gründen politischer Vernunft die Ukraine und Georgien nicht Mitglieder der Nato werden können.
Innenpolitische Rücksichtnahmen bei außenpolitischen Entscheidungen sind nicht ungewöhnlich. Was jedoch für Europa gefährlich zu werden droht, ist, dass die USA wegen ihrer kurzen Wahlperioden und der tiefen politischen Spaltung ihres Landes, für außenpolitische Kompromisse nahezu gelähmt erscheinen. Wolfgang Ischinger sollte diesem Spuk ein Ende machen und jetzt erneut Klartext reden: Die Ukraine und Georgien werden kein Mitglied der Nato und Putin kann sich auf Europa verlassen. Nur so werden auch die überzogenen sicherheitspolitischen Forderungen Putins verhandlungsfähig. Europa braucht dringend eine klare Stimme in der Russlandpolitik.
Zum Autor: Klaus von Dohnanyi, 93, gehört seit 57 Jahren der SPD an. Der Jurist arbeitete zunächst in der Wirtschaft, bevor er in die Politik ging. Er war Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt sowie Erster Bürgermeister seiner Heimatstadt Hamburg.