Mehr als 300 Tage währt der Krieg in der Ukraine schon. Nur wenige glauben noch an ein rasches Ende. Und doch nimmt man sowohl in den westlichen Hauptstädten als auch in Kiew wieder das Wort „Friedensverhandlungen“ in den Mund. Warum trotzdem wenig dafürspricht, dass sich die beiden Kriegsparteien Ukraine und Russland bald auf ein Ende der Kämpfe einigen:
1. Gerechtigkeit Während der Weihnachtstage waren es die Worte des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba, die neue Hoffnungen weckten. „Jeder Krieg endet als Resultat von Handlungen auf dem Schlachtfeld und am Verhandlungstisch“, sagte er der Nachrichtenagentur AP. Kuleba hatte sogar einen konkreten Vorschlag: Er plädierte für einen Friedensgipfel bei den Vereinten Nationen (UN), nach Möglichkeit mit UN-Generalsekretär António Guterres als Vermittler, das Treffen könnte bereits im Februar stattfinden – also ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf sein Nachbarland.
Doch eine wichtige Bedingung für diesen Friedensgipfel dürfte der Kreml kaum erfüllen: Kuleba fordert ein vorheriges Kriegstribunal gegen Russland. Die russische Armee hat in den vergangenen Monaten massive Kriegsverbrechen begangen. Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft zählt inzwischen zehntausende Fälle. Unter anderem haben Putins Truppen in Irpin und Butscha die Zivilbevölkerung regelrecht abgeschlachtet. Auch die Vereinten Nationen haben keinen Zweifel an den Gräueltaten. Die russischen Kriegsverbrechen beschädigen zudem das Vertrauen in eine Verhandlungslösung massiv.
Präsident Wolodymyr Selenskyj erinnerte jüngst daran, dass schon im Januar 1942, lange vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges, von den Alliierten in London der Grundstein für die juristische Verfolgung der Kriegsverbrechen der Nazis gelegt wurde. Die damalige St. James-Erklärung leitete den Weg zum späteren Nürnberger Tribunal ein. Einem Kriegsverbrechertribunal wird Russland allerdings kaum zustimmen. Über den UN-Sicherheitsrat kann es gemeinsam mit seinen Verbündeten ein solches Tribunal mit seinem Veto-Recht verhindern.
2. Territorium Wladimir Putins Truppen besetzen derzeit rund ein Fünftel des ukrainischen Staatsgebiets. Ein schneller Friede würde diesen Status quo praktisch zementieren, Russland hätte also völkerrechtswidrig Gelände erobert – und gewonnen. Das können weder der Westen noch die Ukraine selbst hinnehmen – von den osteuropäischen Ländern, die Angst vor dem weiteren Macht-Hunger des Kreml haben, ganz zu schweigen. Kriege würden dadurch quasi „salonfähig“ gemacht, zu einem politischen Mittel erhoben.
Russland hat immer wieder klargemacht, dass es nur auf Basis des heutigen Frontverlaufs verhandeln würde, inklusive der Krim. Tatsächlich wäre Kiew zu Beginn des Krieges zu Zugeständnissen bereit gewesen. Doch inzwischen kann Selenskyj aus einer Position der Stärke heraus handeln, er will so viel Territorium wie möglich zurückerobern. Dass die Ukraine auf Teile ihres Staatsgebiets verzichtet, schloss zuletzt auch Andrej Melnyk, früherer ukrainischer Botschafter in Deutschland, kategorisch aus.
„Das ist für Kiew nicht hinnehmbar. Das wird nie geschehen“, sagte er. „All das Kreml-Gerede, die angebliche Bereitschaft Putins zu verhandeln, ist purer Bluff, der hauptsächlich darauf zielt, im Westen Sympathien zu sammeln, die Gesellschaften – auch in Deutschland – zu verunsichern und die Entschlossenheit unserer Verbündeten zu zerbröckeln. Das darf man nicht zulassen.“
Die Ukraine besteht auf Sicherheitsgarantien
3. Sicherheit Nach westlicher Zeitrechnung begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 – nach ukrainischer Zeitrechnung allerdings schon im Jahr 2014. Damals drangen von Moskau unterstützte Separatisten in den Donbass ein, besetzten Gebiete. Zugleich holte sich Wladimir Putin mit militärischer Gewalt die Krim zurück. Zufrieden war er damit nicht, er ließ die Situation in diesem Jahr eskalieren – trotz internationaler Vermittlungsbemühungen. „Von den knapp 14.000 Menschenleben, die der russische Krieg gegen die Ukraine vor dem 24. Februar 2022 forderte, entfielen deutlich über die Hälfte auf die Zeit nach dem Abschluss der Minsker Vereinbarungen im Februar 2015“, analysiert Sabine Fischer, Expertin bei der „Stiftung Wissenschaft und Politik“.
Entsprechend gering ist das Vertrauen, dass sich Russland an einen möglichen Friedensvertrag hält. Ohne eine Nato-Mitgliedschaft hat die Ukraine nie die Sicherheit, dass ihr der Westen im Ernstfall erneut beistehen würde. Zugleich führt Putin seine Furcht vor einem „Ausbreiten“ der Nato immer wieder als Kriegsgrund an. Was es also braucht, ist eine neu Sicherheitsarchitektur. Der Sicherheitsexperte Carlo Masala von der Bundeswehr-Uni in München sagt im Interview mit der Süddeutschen Zeitung mit Blick auf die Ukraine: „Wahrscheinlich ist, dass das Land bis auf die Zähne bewaffnet und hochgerüstet wird und außerdem Artikel-5-ähnliche Sicherheitsgarantien einzelner Nato-Staaten bekommt.“
4. Putin Der russische Präsident Wladimir Putin hat in den vergangenen Monaten immer mal wieder Verhandlungsbereitschaft signalisiert, diese aber nie mit konkreten Schritten verknüpft. Im Gegenteil: Die jüngsten russischen Angriffe auf die Energie-Infrastruktur der Ukraine sind sogar ein Ausdruck einer massiven Eskalation. Putin kann es sich kaum leisten, als „Verlierer“ vom Schlachtfeld zu gehen. Für ihn geht es nicht nur um die Ukraine, um Geländegewinne – es geht ihm um eine Demonstration seiner Stärke.
Schon lange sieht der Kremlchef seine Invasion in die Ukraine auch als einen Krieg mit dem Westen und die Waffensysteme der Nato-Staaten. Der „kollektive Westen“ habe es auf eine Vernichtung Russlands abgesehen und nutze die Ukraine als Instrument, behauptete er mehrfach. Die Neue Zürcher Zeitung kommentierte jüngst: „Putin ist der Versager des Jahres. Mit seinem törichten Feldzug hat er nichts erreicht, sondern im Gegenteil die Grundprobleme Russlands nur verschärft: Der Lebensstandard sinkt, die demografische Krise verstärkt sich, Investoren suchen das Weite, die Abhängigkeit vom Rohstoffsektor wächst und der Sicherheitsapparat verschlingt Rekordsummen.“
Die Hoffnungen, dass die Russen Putins überdrüssig werden, sollte man sich allerdings nicht machen. Zum einen sitzt der Präsident trotz der Teilmobilmachung fest im Sattel. Zum anderen würde sich auch ein möglicher Nachfolger kaum als Freund des Westens verstehen. Putins Ziel ist zudem die Zermürbung des Westens. Sein Kalkül: Je länger der Krieg dauert, umso geringer wird die Solidarität mit der Ukraine sein und umso größer der Druck auf Kiew, die Kämpfe zugunsten Russlands zu beenden.
Ukrainer lassen in ihrem Kampf nicht nach
5. Bevölkerung Die russischen Raketenangriffe, die seit Wochen immer wieder landesweit die Energieversorgung der Ukraine lahmlegen, haben vor allem ein Ziel: die Bevölkerung kriegsmüde zu machen. Doch bislang ist der Wille zum Widerstand in der Ukraine ungebrochen. Nur durch die hohe Motivation sowohl bei den Streitkräften, aber auch bei vielen anderen Unterstützern ist es dem Land überhaupt gelungen, aus einer Position der vermeintlichen Unterlegenheit herauszufinden und Russland militärisch in seine Grenzen zu verweisen. Das bindet auch den Präsidenten.
Große Zugeständnisse an Russland würden bei den Menschen kaum akzeptiert werden. Vor allem in den von Russland besetzten Gebieten würden immer wieder Kämpfe aufflammen. Hinzu kommt, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer gesehen haben, was in den Gebieten, die von Russland eingenommen wurden, mit ihren Landsleuten geschehen ist. Der Druck, sich Moskau zu beugen, ist massiv, wer dem nicht nachkommt, muss schwerste Verbrechen befürchten.