Lukas’ Kopf war so groß wie eine Zitrone, Lenas Hand wie der Fingernagel ihres kleinen Fingers. 515 Gramm hat Lukas bei seiner Geburt gewogen, 290 Gramm seine Zwillingsschwester Lena. Eigentlich sollten Silke Maders Kinder jeweils 800 Gramm wiegen, doch sie waren unterversorgt. Denn die damals 25-Jährige litt, was viel zu spät erkannt wurde, wie sie sagt, an Präeklampsie, auch Schwangerschaftsvergiftung genannt. Noch heute ein ernst zu nehmendes Risiko für Mutter und Kind. In der 25. Schwangerschaftswoche wurden ihre Kinder geholt. Und es begann für alle drei ein Überlebenskampf.
Auch heute, 25 Jahre später, sind Frühgeborene keine Seltenheit. Knapp zehn Prozent aller Kinder in Deutschland kommen zu früh, also vor der 37. Schwangerschaftswoche, auf die Welt. Etwa ein Prozent der Schwangerschaften endet sogar bereits vor der 32. Schwangerschaftswoche. Es sind extreme Frühchen. Sie wiegen unter 1500 Gramm. Dass sie eine ganz besondere Versorgung benötigen, ist klar. Dass diese Versorgung aufgrund des medizintechnischen Fortschritts, aber auch dank eines stetig wachsenden Wissenstands immer besser wird, ist wunderbar. Dass diese Versorgung aber nicht mehr jedem Kind zugutekommen kann, wie der Münchner Neugeborenen-Experte Professor Dr. Andreas Flemmer sagt, macht Mütter wie Silke Mader nicht nur fassungslos, sondern „unglaublich wütend“. Was fehlt, sind nicht Betten, was fehlt, sind Kinderpflegekräfte.
Pflegenotstand in der Kinderpflege: Nicht erst seit Corona ein gravierendes Problem
Wie konnte es so weit kommen? Warum wurde nicht früher gehandelt? Erklären doch Ärzte, Pflegende und Eltern unisono, dass der Pflegenotstand in der Kinderpflege nicht erst seit Corona ein gravierendes Problem bildet, sondern seit vielen Jahren. Längst ist es sogar ein lebensbedrohliches Problem, sagt Flemmer, der Leiter der Neonatologie, also der Neugeborenenmedizin am Uniklinikum München-Großhadern und des Dr. von Haunerschen Kinderspitals. Denn aufgrund des Pflegemangels sind nach seiner Einschätzung mehr Neugeborene gefährdet als heute nötig wäre. Auch in Bayern.
Der Politik habe man wiederholt die brisante Lage aufgezeigt. „Diese hat sich hier nicht mit Ruhm bekleckert“, sagt Flemmer. Aus seiner Sicht hat die Politik das Problem sogar noch verschärft, indem sie die Generalisierung der Pflegeausbildung beschlossen hat, was seiner Einschätzung nach dazu führt, dass noch weniger spezialisierte Kinderkrankenpflegekräfte ausgebildet werden. Zur Erklärung: Im Jahr 2020 wurde die dreijährige Standardpflegeausbildung eingeführt, die eine Spezialisierung nur im letzten Jahr vorsieht. Um auf der Neugeborenenintensivstation zu arbeiten, benötigten Neueinsteiger eine ausreichende Zahl von Praxisstunden. Um diese zu erreichen, seien jedoch in Bayern nicht genug Ausbildungsplätze vorhanden.
"Verstärkt Situationen, in denen wir tatsächlich triagieren müssen"
Bei GKind, der Gesellschaft der Kinderkrankenhäuser und Kinderabteilungen in Deutschland, bestätigt man Flemmers Beobachtung mit Zahlen. Dort spricht man von einem bundesweit „alarmierenden Trend“. Bei einer Umfrage 2020 hätten allein in Bayern von den sich gemeldeten 14 Ausbildungszentren nur noch eine die Spezialisierung auf Kinderheilkunde angeboten.
Dabei herrscht schon jetzt an der Uniklinik in München so ein eklatanter Pflegeengpass, wie Flemmer erläutert, dass nicht mehr jeweils 16 Kinder auf der Frühgeborenenintensivstation sowie auf der Überwachungsstation gleichzeitig versorgt werden können, sondern nur noch die Hälfte. Und das in einem Haus, in dem auch schwerst kranke Neugeborene, aber auch extreme Frühchen mit einem Geburtsgewicht unter 500 Gramm gut behandelt werden können. Etwa ein Drittel von diesen seltenen „Ultra“-Frühchen – etwa eines von 1000 Frühgeborenen sei betroffen – habe die Möglichkeit, sich ohne jede Einschränkung entwickeln zu können.
Die guten Prognosen fügt Flemmer stets automatisch mit an. Denn gerade Frühgeborenenmediziner wie er müssten sich immer wieder für ihr Tun sogar noch rechtfertigen, erzählt er. Als wäre es keine Selbstverständlichkeit, in diesem reichen, hoch entwickelten Land, jedem aktiven, selbst atmenden Kind, das auf die Welt kommt, jede nur denkbare Hilfe zukommen zu lassen – auch wenn sie, wie jede maximale Intensivmedizin, das Risiko einer bleibenden Beeinträchtigung birgt.
Doch jedem Kind können Flemmer und sein Team längst nicht mehr jede Hilfe anbieten. Eine Katastrophe für den Arzt, wie im Gespräch deutlich wird. „Wir haben aufgrund des zunehmenden Mangels an Pflegekräften in der Kinderheilkunde und insbesondere in der Neugeborenen- und Kinderintensivpflege verstärkt Situationen, in denen wir tatsächlich triagieren müssen“, sagt er. „Das heißt, ich muss immer öfter schauen, kann ich dieses Kind überhaupt noch versorgen beziehungsweise muss ich Kinder, die sich stabilisiert haben, an ein anderes Zentrum verlegen, um wieder Platz zu schaffen.“
Frühchen ist nicht gleich Frühchen
Definition Grundsätzlich gelten Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, als Frühchen. Doch es gibt Abstufungen, erklärt Privatdozent Dr. Thomas Völkl, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin am Josefinum. So gelten Kinder, die unter 1500 Gramm wiegen, als extreme Frühchen. Je früher ein Kind geholt werden muss, desto unreifer und anfälliger ist es in der Regel. Mädchen haben eine etwas bessere Prognose als Buben.
Leitlinie Geht es nach den Fachgesellschaften, bekommt ein Kind, das ab der 24. Schwangerschaftswoche mit über 400 Gramm auf die Welt kommt, eine maximale Versorgung. Wird es vorher geboren oder liegen zusätzlich Risiken vor, werden mit den Eltern die Versorgungsmaßnahmen besprochen, da das Risiko für mittlere und schwere Schäden bei diesen Frühchen bei bis zu 25 Prozent liege.
Risiken Bei vielen Frühgeburten bleibt die Ursache unbekannt. Zu den Risikofaktoren gehören Drogenmissbrauch, eine Mehrlingsschwangerschaft, chronische Vorerkrankungen und Infektionen. Ab dem 35. Lebensjahr der Schwangeren steigt das Risiko. Und Frauen, die bereits eine Frühgeburt hatten, haben ein erhöhtes Risiko für eine weitere.
Betroffen sind aber nicht nur Frühchen. Die Neonatologie am LMU Klinikum bietet auch ECMO an, die Behandlung mit einer künstlichen Lunge. Mit einer schwer geschädigten Lunge können auch reife Neugeborene zur Welt kommen und haben mit einer ECMO eine über 80-prozentige Überlebenschance, erklärt er. „Doch einige dieser Kinder konnten wir zuletzt nicht mehr versorgen. Es wird dann natürlich versucht, sie an ebenso spezialisierte Zentren in andere Bundesländer zu verlegen. Wenn aber auch das nicht klappt, kann man ihnen nicht helfen.“
Dabei wird sowohl am LMU Klinikum aber auch an den anderen so genannten Perinatalzentren der maximalen Versorgungsstufe, wovon es bundesweit 167 gibt, wirklich alles dafür getan, um eine optimale Versorgung aufrecht zu erhalten, betont Flemmer. Und trotz knapper Besetzung versorgen er und sein Team etwa 80 bis 100 Frühgeborene im Jahr, deren Geburtsgewicht unter 1500 Gramm liegt. „Dies bedeutet aber, dass wir zu jeder Tages- und Nachtzeit Frühchen, die einigermaßen stabil sind, in umliegende Häuser verlegen müssen – bis hin beispielsweise nach Augsburg, Ingolstadt, Garmisch, Starnberg, Altötting.“
Für die betroffenen Eltern ist dies eine enorme Belastung. „Die Eltern sind meist entsetzt, wenn wir ihr Kind verlegen müssen. Aber wir haben keine andere Wahl“, sagt Flemmer und fordert sofortige Maßnahmen. Dazu gehört für ihn nicht nur eine deutliche Aufstockung der Ausbildungsplätze. Pflegekräfte, die jetzt aufgrund der akuten Engpässe einspringen, müssten sofort deutlich mehr Geld erhalten. Auch gelte es, alles dafür zu tun, um die noch verbliebenen Pflegekräfte zu halten, indem in Hochpreisregionen wie in der Region München Wohnraum für Familien geschaffen wird, welche die dort exorbitant steigenden Preise einfach nicht mehr bezahlen können.
Aber ist es in Augsburg besser? Auch dort steigen die Mieten. Im Josefinum in Augsburg werden Kinderkrankenpflegekräfte ausgebildet. Träger der Klinik ist die Katholische Jugendfürsorge der Diözese Augsburg e. V. (KJF). Es ist eine traditionsreiche Ausbildungsstätte und mit seinem Perinatalzentrum Maximalversorger. Deutlich über 3600 Kinder kamen dort 2021 auf die Welt. „So viele wie noch nie“, sagt der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin, Privatdozent Dr. Thomas Völkl, stolz. Etwa 70 der Neugeborenen waren extreme Frühchen, wogen also unter 1500 Gramm.
Für Berninger wurden in der Vergangenheit große Fehler begangen
Risiken gibt es viele für Frühchen. Vor allem die Lunge ist oft noch nicht ausgereift. Auch schwere Hirnblutungen treten vermehrt auf und die Unreife des Darms führt oft zu Entzündungen. Wobei man unter anderem zur Vorbeugung von Darmentzündungen am Josefinum eine eigene Frauenmilchbank aufgebaut hat, da Muttermilch das Erkrankungsrisiko deutlich senke.
Doch zurück zur Frage: Ist die Lage auf der Frühchen-Intensivstation in der KJF Klinik Josefinum auch so dramatisch wie an der Münchner Uniklinik? „Nein“, sagt Völkl, „wir kommen knapp hin.“ Aber knapp ist natürlich nicht gut und auch im Josefinum würde man daher gerne mehr Kinderkrankenpflegekräfte einstellen, „wenn wir sie hätten“, ergänzt Pflegedirektorin Sabine Berninger, die im Vorstand des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe ist. „Doch der Arbeitsmarkt ist leer.“
Für Berninger wurden vor allem in der Vergangenheit große Fehler begangen, da in vielen Häusern auf Kosten der Pflege Personal eingespart wurde. Die Schaffung von wesentlich mehr Ausbildungsplätzen fordert deshalb auch sie. Dass allerdings die neue Generalisierung der Ausbildung zu einer weiteren Verschärfung führt, will sie so nicht bestätigten. Sie würde gern noch abwarten und die Entwicklung beobachten. Für Berninger ist es wichtig, dass der Pflegeberuf schnellstmöglich deutlich aufgewertet wird, gerade auch in punkto Bezahlung. Denn der Bedarf steige weiter, aber auch die Arbeitsbelastung und die Anforderungen.
Im Josefinum profitiere man davon, einen „sehr stabilen Personalstamm“ zu haben. Margit Kaeuffer gehört zu ihm. Die 53-Jährige arbeitet dort auf der Früh- und Neugeborenen-Intensivstation. Eine ruhige Frau. Schon als Kind spielte sie am liebsten Krankenschwester, erzählt sie, hatte ein Arztköfferchen und „behandelte“ fleißig. Ihr Kindheitstraum ging in Erfüllung: Seit 1989 im Dienst, hat sie nur pausiert, als sie selbst zweimal Mutter wurde. Wer ihr zuhört, merkt schnell, dass vor allem die Arbeitsbedingungen stimmen müssen, damit es in ihrem Beruf gut läuft. „Wir sind ein sehr gutes Team“, hebt sie hervor und ergänzt: „Wir springen noch gegenseitig füreinander ein.“ Was auch oft nötig ist. Denn Kinderkrankenpflege bedeutet Schichtdienst, Arbeit auch am Wochenende. Und es ist ein sehr verantwortungsvoller Beruf.
Völkl macht keinen Hehl daraus, dass gerade auch in der Intensivkinderpflege hohe Kompetenzen von Pflegekräften erwartet werden: Vor allem Erfahrung ist wichtig, eine gute Stressbewältigung, hohe Intelligenz und unter anderem eine sorgfältige Beobachtungsgabe, schließlich kann sich der Zustand der Kleinen rasch ändern. „Es ist eine persönliche Reife nötig“, sagt er. Denn zu der Kinderversorgung kommt die Arbeit mit den Eltern dazu.
"Ich habe meine Kinder nur etwa zwei bis drei Stunden am Tag sehen dürfen"
Gerade auf die Einbindung der Eltern wird am Josefinum sehr viel Wert gelegt, betont Völkl. Daher setze man einen in Deutschland noch wenig praktizierten individueller auf das einzelne Kind zugeschnittenen pflegerischen Ansatz um, der in der Fachsprache NIDCAP (Newborn Individualized Developmental Care and Assesment Program) heißt. In der Praxis wird etwa besonders auf die mentalen Bedürfnisse des einzelnen Kindes geachtet, es wird ein sehr reizarmes Klima geschaffen mit wenig Licht und Geräuschen. Und die Rolle der Eltern wird stärker berücksichtigt, ob für sie genug Raum ist, etwa zum Stillen oder Übernachten.
Alles Dinge, wovon Silke Mader damals nur träumen konnte. „Ich habe meine Kinder nur etwa zwei bis drei Stunden am Tag sehen dürfen. Die Kinderkrankenschwester habe ich mit Mon Cherie & Co. bestochen, um mir die Milchpumpe von der Station ausleihen zu dürfen.“ Dass vieles heute sehr viel besser ist, dafür hat die 50-Jährige, die in Karlsfeld im Kreis Dachau lebt, über Jahre zäh gekämpft. „Ich war eine lästige Mama.“ Sie ist aber auch eine erfolgreiche Mama: Sorgte sie zunächst in Form einer kleinen Elternselbsthilfegruppe für mehr Vernetzung von Betroffenen, setzt sie sich heute mit der von ihr gegründeten European Foundation for the Care of Newborn Infants (EFCNI) weltweit dafür ein, dass Früh- und Neugeborene sowie deren Eltern gut versorgt sind. Und viel sei noch zu tun. So würden etwa Standards bei der Nachsorge von Frühchen im Erwachsenenalter fehlen. Denn je nachdem, wie früh sie auf die Welt kommen und mit welchen Komplikationen, habe ein Teil von ihnen auch gesundheitliche Risiken, die im Blick behalten werden müssten.
Lukas ist heute 25 Jahre alt. Er macht gerade seinen Master in Kulturwissenschaften und europäischer Ethnologie. Eine leichte Zerebralparese schränkt ihn körperlich etwas ein. Er kann beispielsweise Fußballspielen, aber nicht Radfahren. Auch sieht er schlecht, erzählt seine Mutter. Seine Schwester Lena hat nicht überlebt. Sie ist am siebten Tag nach ihrer Geburt in Folge einer Gehirnblutung gestorben. Dafür, dass ihre Eltern sie beerdigen durften, mussten sie kämpfen: „Kinder, die unter 500 Gramm gewogen haben, wurden damals wie Abfall beseitigt“, sagt Mader. Auch das gibt es heute nicht mehr.
Doch warum machen Eltern von Neugeborenen nicht mehr Druck gegen den Pflegenotstand? Mader wünscht sich mehr Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Aber sie weiß auch um die Belastungen, die Frühchen nicht selten mit sich bringen: „Gerade extreme Frühchen sind ein Schicksal, das du ein Leben lang mit dir herumträgst“, erklärt sie. Viele Mütter machten sich Vorwürfe, fürchten, sie hätten etwas falsch gemacht. Oft gingen auch Beziehungen kaputt, tragen die Frauen doch ein erhöhtes Risiko auch bei der nächsten Schwangerschaft zu früh zu gebären. Auch ihr wurde von einer weiteren Schwangerschaft abgeraten. Damit ging ein Lebenstraum für sie kaputt, wollte die Pädagogin doch immer drei Kinder haben. „Ich weiß aber auch“, sagt sie und lächelt, „welch großes Glück ich habe, dass mein Mann und ich unseren Lukas haben.“
Hören Sie sich dazu auch unseren Podcast mit einer Hebamme aus der Reihe "Augsburg, meine Stadt" an: