Herr Butkevych, Sie haben fast zweieinhalb Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft verbracht. Wie haben Sie den Tag erlebt, als man Sie gefangen nahm?
Maksym Butkevych: Das war im Juni 2022. Meine Truppe und ich hatten den Befehl erhalten, unsere Streitkräfte im Osten zu verstärken. In einem Dorf namens Myrna Dolyna. Übersetzt bedeutet das „Friedliches Tal“. Ich dachte mir noch: Es muss ein schlechtes Omen sein, in einem friedlichen Tal in den Krieg zu ziehen.
Und so war es auch…
Butkevych: Ja. Wir kamen in der Nacht dort an, unter schwerem russischem Beschuss. Auch am nächsten Tag dauerte der noch an. Vor meinen Augen zerstörten sie das Dorf. Irgendwann verstummten unsere Funkgeräte. Wahrscheinlich, weil die Russen das Signal störten. Am nächsten Tag hörten und sahen wir, wie russische Truppen in den benachbarten Wald eindrangen. In diesem Moment meldete sich zum ersten Mal seit über einem Tag wieder ein Soldat der benachbarten Einheit über Funk bei uns. Er sagte, die Russen hätten das Gebiet eingekesselt. Der Kreis sei aber noch nicht ganz geschlossen. Wir könnten immer noch fliehen, wenn wir seinen Hinweisen folgen.
Wie haben Sie reagiert?
Butkevych: Wir haben getan, was er sagte. Es war schwierig voranzukommen, weil wir seit fast 24 Stunden kein Wasser mehr hatten. Und der Sommer 2022 war heiß. Trotzdem liefen wir weiter. Als wir beim Wald ankamen, wies die Stimme uns an, stehen zu bleiben. Er sagte, die Russen hätten ihn am Abend zuvor gefangen genommen. Er hatte uns in ihre Stellung gelockt. Er wies uns an, dass wir unsere Waffen niederlegen sollten, sonst würde man uns erschießen. Dann kamen die russischen Kämpfer aus dem Wald. Für mich als Platoon-Führer war das Leben meiner Kämpfer das Wichtigste. Deshalb befahl ich ihnen, ihre Waffen niederzulegen. Es hatte keinen Sinn, zu kämpfen.
Sie kamen in die Gefangenschaft. Wie gingen die russischen Kämpfer mit Ihnen um?
Butkevych: Diese erste Truppe war verhältnismäßig gut zu uns. Sie waren froh, einem Gefecht entgangen zu sein. Sie gaben uns sogar Wasser. Aber es war klar, dass sie selbst bisher nicht kämpfen mussten. Sie waren neu an der Front. Einer von ihnen sagte: Jungs, wenn alles vorbei sein wird, dann werden wir ein paar Bier zusammen trinken. Und ich sah ihn nur an und dachte: Du verstehst nicht, was hier los ist. Du verstehst nicht, was da draußen passiert. Dann wurden wir in einen Lastwagen verfrachtet und sie fuhren uns tiefer in ihr Gebiet.
Dort waren sie gewalttätiger?
Butkevych: Ja. Als wir ankamen, wurden uns alle Besitztümer abgenommen. Sie nahmen sich alles, was ihnen gefiel. Aber sie wollten uns nicht beklauen, sie wollten es vor sich selbst rechtfertigen. Also fragte mich einer, als er meine Kopfhörer sah: Schenkst du mir die? Und wenn du mit auf dem Rücken gefesselten Händen vor einem Mann kniest, der eine Waffe auf deinen Kopf richtet, dann wirst du sie wahrscheinlich verschenken.
Haben Sie?
Butkevych: Nein, habe ich nicht. Denn es gibt ein Sprichwort, das besagt, Geschenke darf man nicht verschenken. Und das war der Fall mit meinen Kopfhörern. Dieser junge Soldat, der russische, war wirklich verwirrt. Am Ende hat er sie trotzdem genommen. Aber eben nur als Beute, nicht als Geschenk. Sie nahmen uns alles ab, dann brachten sie uns weiter.
Wissen Sie, wohin sie gebracht wurden?
Butkevych: Weiter in die russisch besetzen Gebiete, in irgendein unfertiges Haus mit Betonboden und einem Plastikeimer als Toilette. Wir waren stundenlang gefesselt, mit Plastikstreifen, unsere Hände waren geschwollen und taub. Die Einheit dort trug Sturmhauben, was mir Hoffnung gab.
Warum?
Butkevych: Wenn sie nicht wollten, dass wir sie erkennen, dann hieß das zumindest, dass sie uns nicht umbringen würden. Aber der Kommandant der Truppe versuchte permanent, uns zu demütigen. Einmal holte er zum Beispiel sein Smartphone heraus und rezitierte Putins Rede über die Geschichte der Ukraine. Meine Männer hatten die Hände auf den Rücken gefesselt und mussten sie Wort für Wort nachsprechen. Wenn sie einen Fehler machten, wurde ich dafür mit einem Stock verprügelt, weil ich der Offizier war. Er hat es genossen und ich habe immer noch Narben davon. Der Schmerz war kaum auszuhalten. So ging es die nächste Zeit weiter.
Zu etwa dieser Zeit wurde ihr Schicksal einer internationalen Öffentlichkeit bekannt. Die Aktivistin Oleksandra Matwijtschuk nannte Sie in ihrer Rede, als sie im Dezember 2022 den Friedensnobelpreis annahm.
Butkevych: Ja, das war kurz vor meiner Verurteilung. Ich kam in ein Straflager, wo ich schwer arbeiten musste. Ich nahm fast 30 Kilo ab, bekam gesundheitliche Probleme, habe mich selbst kaum wieder erkannt. Besser wurde es erst, als sie mich – wohl aus Sorge um meine Gesundheit – in den Trakt für Straftäter verlegten, weg von den Kriegsgefangenen. Dort durfte ich zum Beispiel einmal am Tag für eine Stunde auf den Hof gehen. Nach zweieinhalb Jahren kam ich durch einen Gefangenenaustausch im Oktober 2024 frei.
Sie gehörten schon vor dem Krieg zu den bekanntesten Menschenrechtsaktivisten der Ukraine, sehen sich selbst als Antimilitarist. Hatten Sie Zweifel, als Sie 2022 in den Krieg zogen?
Butkevych: Nein, nicht wirklich. Ich denke, ich habe schon seit geraumer Zeit darüber nachgedacht. Eigentlich seit dem Jahr 2014.
Würden Sie sich auch heute noch als Antimilitarist bezeichnen?
Butkevych: Ja, ich würde mich auch jetzt noch als Antimilitarist bezeichnen. Ich verstehe, dass das für viele Menschen ein Widerspruch ist. Für mich ist es das nicht. Mir wird auch häufig nachgesagt, ich sei Pazifist. Aber wissen Sie, das ist eine Definitionssache. Natürlich bin ich gegen Krieg. Wenn das für Sie die Bedeutung von Pazifismus ist, dann bin ich natürlich Pazifist. Wenn Pazifismus bedeutet, dass man Krieg und Gewalt geschehen lässt, ohne sich zu wehren, dann bin ich kein Pazifist. Wenn Menschen getötet, Städte zerstört, Ukrainer eingesperrt werden, und ich keinen Widerstand leiste, dann habe ich das Gefühl, dass ich mich mitschuldig mache. Ich kenne keinen einzigen Ukrainer, der diesen Krieg wollte. Wir wollten immer Frieden.
In Deutschland gibt es Friedensbewegungen und Parteien, die eine andere Auffassung von Pazifismus haben. Sie demonstrieren gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie blicken Sie auf diese Debatte?
Butkevych: Das ist natürlich eine Haltung, die man vertreten kann. Ich halte sie nur für heuchlerisch. Seien Sie doch einfach ehrlich und sagen Sie: „Ich stehe auf der Seite des Aggressors. Ich möchte, dass die Ukraine nicht mehr existiert.“ Das wäre wenigstens ehrlich.

Wie blicken Sie auf ein mögliches Friedensabkommen?
Butkevych: Es wäre illusorisch zu glauben, dass das das Ende des Krieges sein wird.
Warum?
Butkevych: Der Krieg wird weitergehen, nur an anderen Schauplätzen und in anderer Form. Es wird zum Beispiel ukrainische Widerstandskämpfer im Untergrund geben. Sie werden das nicht akzeptieren. Und auch Russland wird sich nicht zufriedengeben. Am zweiten Tag meiner Gefangenschaft in Luhansk sagten mir russische Offiziere: „Wenn wir mit der Ukraine fertig sind, haben wir die kampferprobteste Armee in Europa. Dann werden wir weiter vorrücken.“ Ich fragte: „Wohin? Ins Baltikum? Nach Polen?“ Und die antworteten: „Warum sollten wir uns mit Polen zufriedengeben?“ Deshalb vergessen Sie das nie: Wir verteidigen hier auch Ihre Freiheit.
Zur Person
Maksym Butkevych arbeitet als Journalist unter anderem für die BBC, später engagierte er sich als Friedensaktivist. Im Anthea-Verlag ist sein Buch „Am richtigen Platz“ erschienen. Das Vorwort stammt von der Friedensnobelpreisträgern Oleksandra Matwijtschuk.
>> In Deutschland gibt es Friedensbewegungen und Parteien, die eine andere Auffassung von Pazifismus haben. Sie demonstrieren gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Wie blicken Sie auf diese Debatte?<< Butkevych: Das ist natürlich eine Haltung, die man vertreten kann. Ich halte sie nur für heuchlerisch. Seien Sie doch einfach ehrlich und sagen Sie: „Ich stehe auf der Seite des Aggressors. Ich möchte, dass die Ukraine nicht mehr existiert.“ Das wäre wenigstens ehrlich. << Das ist zutreffend! Raimund Kamm
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