Ein Gefühl der erhabenen Distanz stellt sich ein, wenn man den Blick vom Bürgenstock nahe Luzern über den Vierwaldstättersee schweifen lässt. Auf dem 1100 Meter hohen Bergrücken erscheinen manche Sorgen, die noch im Tal den Alltag beherrschten, klein und nichtig. Doch dieser Effekt dürfte schnell verpufft sein, wenn sich am Samstag Staatschefs, Ministerpräsidenten und hochrangige Regierungsvertreter aus rund 80 Ländern in der majestätisch gelegenen Luxushotelanlage mit dem Ukraine-Krieg beschäftigen – derart monströs sind die Probleme, die einem Ende des sinnlosen Sterbens entgegenstehen.
Angesichts der völlig verkanteten Lage klingt es fast vermessen, dass das Schweizer Treffen unter dem Level „Friedenskonferenz“ firmiert. Und das nicht nur, weil mit Russland der Verursacher des Krieges fehlt. Immerhin hat Moskau den Gipfel mit wüsten Tiraden indirekt geadelt. Die Ausfälle zeigen, dass der Kreml die Konferenz durchaus ernst nimmt.
Viele internationale Treffen zum Ukraine-Krieg
In diesen Wochen jagen sich internationale Treffen, die sich um den Konflikt drehen. Aktuell die Wiederaufbaukonferenz in Berlin, gefolgt vom G7-Gipfel in Italien, dann Bürgenstock und bereits am 12. Juli der Nato-Gipfel in Washington. Insbesondere letzterer Termin in den USA ist für den ukrainischen Präsidenten von existenzieller Bedeutung. Dort wird Wolodymyr Selenskyj angesichts der militärisch brenzligen Situation alles daransetzen, die Intensität der Unterstützung durch den Westen hochzuhalten.
Nur so kann die Grundlage dafür geschaffen werden, dass sich die Ukraine in einer selbstbewussten Position befindet, wenn eines Tages tatsächlich substanzielle Verhandlungen unter Beteiligung Moskaus beginnen. Bei seiner Rede im Deutschen Bundestag setzte er am Dienstag schon mal den Ton. Selenskyj formulierte einen flammenden Appell für die Werte eines freien Europas, die durch Russlands Aggression massiv gefährdet sind. Die Botschaft dahinter: Wenn der Westen uns hilft, dann schützt er auch sich selbst.
Doch dass es der Ukraine in absehbarer Zeit gelingen kann, alle durch russische Truppen völkerrechtswidrig besetzten Gebiete zurückzuerobern, wird zusehends illusorisch. Eine bittere Wahrheit, die sich Kiew früher oder später selbst eingestehen wird. Auf der anderen Seite müsste der russische Machthaber Wladimir Putin einsehen, dass sein irrwitziger Angriffskrieg mit – je nach Quelle – bis zu 350.000 getöteten oder verletzten Soldaten ein Verbrechen auch am eigenen Volk ist. Doch dazu scheint er nicht in der Lage zu sein. Die „Friedensangebote“ des Kremlchefs kommen Forderungen nach der Unterwerfung der Ukraine gleich.
Ukraine: Ein umfassender Friedensvertrag ist nicht in Sicht
Trotz dieser Konstellation ist die Konferenz in der Schweiz keine Zeitverschwendung. Schon gar nicht für Selenskyj. Er hat das wachsende Gewicht der Staaten des Globalen Südens lange unterschätzt. Die meisten dieser Länder verweigern der Ukraine die Hilfe oder stehen gar an der Seite Russlands – auch weil sie zeigen wollen, dass sie nicht mehr bereit sind, nach den Regeln des Westens zu spielen. In Bürgenstock wird mit Indien die wichtigste Nation des Globalen Südens mit am Tisch sitzen – eine Chance für Selenskyj.
Es ist an der Zeit, sich von der Vorstellung zu lösen, dass ein umfassender Friedensvertrag das Schlachten in der Ukraine beenden wird. Es geht um kleine Schritte, um Teilabkommen – einen Marathonlauf. Vielleicht gelingt es in Bürgenstock, diesen Weg zumindest perspektivisch zu öffnen. Das wäre nicht wenig.