Ein Vierteljahrhundert verhandelten sie, einmal mehr, manchmal überhaupt nicht, dann wieder voller Ambitionen, aber immer unter ungewissen Vorzeichen. Nun scheint das finale Kapitel der schier unendlichen Geschichte des Freihandelsabkommens zwischen der EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten geschrieben zu sein. Am Freitag segnete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den Deal nach einer letzten Gesprächsrunde mit den Staats- und Regierungschefs aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay in Montevideo ab. „Der heutige Tag ist ein wahrhaft historischer Meilenstein“, sagte sie. Man sende eine klare und deutliche Botschaft aus: „In einer zunehmend konfrontativen Welt demonstrieren wir, dass sich Demokratien aufeinander verlassen können.“ Bei dem Abkommen handele es sich nicht nur um „eine ökonomische Chance, sondern eine politische Notwendigkeit“.
Mercosur-Abkommen abgesegnet: Größte Freihandelszone der Welt ensteht
Nur betrachten nicht alle in der Gemeinschaft die Schaffung der mit rund 770 Millionen Menschen größten Freihandelszone der Welt mit so viel Wohlwollen wie von der Leyen. Vielmehr war es fast schon bezeichnend, wie die Deutsche als einzige Vertreterin aus Europa bei der Pressekonferenz saß, flankiert auf beiden Seiten von je zwei Spitzenvertretern aus Südamerika. Selbstbestimmt war die Kommissionspräsidentin am Donnerstagabend nach Montevideo geflogen, kurz nachdem in Frankreich die Regierung gestürzt wurde. Sie nutze die Schwäche in Paris aus, um Fakten zu schaffen, schäumten die Franzosen hinter den Kulissen. Als erste große Amtshandlung seit ihrer Wiederwahl zurrte sie den Vertrag fest, gegen den Paris mit allem Zorn, den Präsident Emmanuel Macron noch aufbringen konnte, rebelliert hatte.
Doch auch Polen, die Niederlande, Österreich und Italien meldeten Bedenken an. So befürchten deren Bauern, dass argentinische Rindersteaks und brasilianische Hühnchen die EU fluten werden. Die Vereinbarung führe zu einem unlauteren Wettbewerb für die europäische Landwirtschaft und für Lebensmittelhersteller, so die Kritik, da sie umfangreiche Einführen von Produkten ermögliche, die nicht denselben Vorschriften unterliegen wie jene in der EU. Von der Leyen versuchte die Skeptiker zu beruhigen: Man habe die Bedenken der Bauern vernommen und arbeite daran. Zudem versprach sie, das Abkommen würde mehr Arbeitsplätze, mehr Auswahl, bessere Preise und Wohlstand schaffen. Wird es ihr gelingen, die Abweichler vor der Abstimmung im Kreis der 27 Mitgliedstaaten zu überzeugen? Um die Vereinbarung zu kippen, müssten mindestens vier Staaten dagegen votieren, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren.
Europa will im Wettbewerb mit China und den USA robuster werden
Für die Gemeinschaft steht viel auf dem Spiel. Sie will neue Handelsräume erschließen, um sich weniger abhängig von einzelnen Ländern zu machen. Außerdem soll China zurückgedrängt werden, das seit Jahren im Globalen Süden mit den Füßen scharrt. So wenden sich Länder wie Argentinien, Brasilien oder Uruguay zunehmend Peking zu. Mercosur soll darüber hinaus helfen, den Anschluss im globalen Wettbewerb nicht zu verlieren, auch weil im Januar Donald Trump als US-Präsident zurück ins Weiße Haus kehrt und hohe Zölle drohen.
„Cars for cows“, Autos gegen Rinder: So wurde gerne der Kern des Abkommens überschrieben, weil auf Mercosur-Seite insbesondere Agrarerzeuger und Rohstoffkonzerne profitieren würden, während in Europa die Automobilindustrie und ihre Zulieferer genauso zu den Gewinnern zählen dürften wie Chemie- und Pharmaunternehmen sowie der Maschinenbau. Deshalb gehörte neben Spanien vor allem Deutschland zu den Befürwortern. Dementsprechend positiv bewerteten deren Vertreter den Abschluss. Dieser setze „einen dringend notwendigen Wachstumsimpuls für die deutsche und europäische Wirtschaft“, sagte Industrie-Präsident Siegfried Russwurm.
Kritik an Mercosur durch Umweltschützer und Landwirte
Derweil äußerten Naturschutzorganisationen Kritik. Um sie zu beruhigen, will die EU mit Zusatzprotokollen sicherstellen, dass gewisse Umwelt- und Sozialstandards eingehalten werden, dass die Vereinbarung etwa nicht zu einer weiteren Abholzung des Regenwalds für Agrarprodukte führt. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) lobte, dass es gelungen sei, „den Schutz der Wälder zu stärken und das Pariser Klimaabkommen als wesentlichen Bestandteil des Abkommens zu verankern“. Ob die Zusicherungen die Gemüter beruhigen werden? „Die Vernunft sollte jetzt über die Emotionen siegen“, forderte der Vorsitzende des Handelsausschusses im EU-Parlament, Bernd Lange (SPD). Auch wenn der Deal „vielleicht nicht unseren höchsten Ambitionen und Erwartungen entspricht“, wären „die Konsequenzen eines Nichtzustandekommens“ viel problematischer.
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