Ihr sechsjähriger Sohn Giulio bereist mit Ihnen im Wohnmobil die Welt. Warum haben Sie entschieden, ihn nicht in eine Schule zu schicken?
Larissa Horlacher: Mein Mann und ich sind überzeugt, dass Kinder einen inneren Drang haben, zu lernen. In Deutschland müssen Kinder am Ende des Schuljahres ein bestimmtes Lernziel erreichen: Wir glauben aber nicht daran, dass 30 Sechsjährige alle zur selben Zeit bereit sind, das Alphabet zu lernen. Genauso wie Kinder nicht zur selben Zeit bereit sind, Laufen, Krabbeln oder Sprechen zu lernen. Es würde niemand auf die Idee kommen zu sagen: „Das Kind ist anderthalb und kann noch nicht laufen, das muss jetzt in die Laufschule.“ Da ist uns bewusst, dass manche Kinder eben etwas länger brauchen, gewisse Dinge zu lernen. Sobald die Kinder schulpflichtig sind, wird das außer Acht gelassen.
Stattdessen verfolgen Sie das Konzept des freien Lernens. Ihre Kinder können selber entscheiden, wann und was sie lernen möchten.
Horlacher: Unsere drei Kinder wachen morgens auf und fangen schon an zu lernen – durch Spielen. Sie sind nicht gezwungen, von morgens bis abends in einem Betonklotz zu lernen, sondern können das in einer Umgebung tun, die ihnen mehr entspricht. Mittlerweile weiß man, dass Kinder, die die Möglichkeit haben, nach ihren Interessen zu lernen, ein viel breiteres Wissensspektrum haben. Die Hirnforschung belegt, dass man nur wirklich im Gedächtnis abspeichert, was man mit Begeisterung gelernt hat.
Was heißt das für Ihre Kinder?
Horlacher: In unserer Gesellschaft ist Bulimielernen typisch: Ich lerne und lerne für eine Klausur, spucke das Gelernte aus und vergesse es wieder. Das ist bei frei lernenden Kindern ganz anders. Die lernen etwas, weil es ihnen Spaß macht, und das behalten sie auch. Vielleicht haben sie Lücken, die andere Kinder im selben Alter schon geschlossen haben – aber wer hat denn keine Lücken? Ich habe auch Wissenslücken, dafür bin ich in anderen Bereichen richtig gut.
"Unsere Kinder lernen das, was für sie Sinn ergibt"
Was müsste sich denn Ihrer Meinung nach am Schulsystem ändern?
Horlacher: Wir wünschen uns, dass jeder seine Interessen verfolgen und darin richtig gut werden dürfte, weil er die Zeit dafür bekommt und unterstützt wird. Dann kann er in diesem Gebiet auch anderen weiterhelfen. Aber was bringt es uns denn, wenn wir lauter gleichgeschaltete Erwachsene haben, die aus dem Schulsystem rauskommen, von allem ein bisschen können, aber nichts wirklich, weil sie ihre Interessen nicht verfolgen konnten.
Was lernen Ihre Kinder denn genau?
Horlacher: Unsere Kinder lernen das, was gerade für sie Sinn ergibt. Wenn wir in Deutschland sind und ich meinem Sohn sage „Lern jetzt Englisch“, dann würde das überhaupt keinen Sinn ergeben. Aber wenn wir in Thailand sind, wo sich ohnehin alle auf Englisch verständigen, lernt er das dort aus einem Kontext heraus in seinem Alltag. Die Kinder sollen selber aussuchen, was sie gerade lernen wollen. Rechnen, zum Beispiel: Im Zahlenraum bis 20 rechnet unser Sohn sehr sicher, addiert, subtrahiert, multipliziert. Das hat er sich alles selber beigebracht, natürlich mit unserer Hilfe. Das ist unsere Aufgabe als Eltern, ihn zu unterstützen und seine Fragen zu beantworten.
Wird der Zeitpunkt kommen, an dem Sie Ihrem Sohn Lesen beibringen werden, sollte er es nicht von selbst lernen?
Horlacher: Jetzt gerade interessiert ihn eher das Rechnen, aber ich mache mir überhaupt keine Sorgen, dass er nicht Lesen lernen möchte. Einige Wörter erkennt er inzwischen schon, da wir unseren Kindern sehr viel vorlesen. Wir sind geprägt, dass Kinder gewisse Lerninhalte ab einem gewissen Alter verinnerlicht haben müssen. Da müssen wir auch an uns und unseren Vorstellungen arbeiten.
Für Schulabschluss soll Sohn in die Schule - falls er will
Wird es nicht schwierig, irgendwann einen Schulabschluss zu machen, wenn Ihr Sohn nicht zur Schule geht?
Horlacher: Diese Frage hören wir oft. Wenn Kinder aus dem Ausland nach Deutschland kommen, haben die auch nicht die deutsche Schulkarriere hinter sich und trotzdem die Möglichkeit, einen Abschluss zu machen. Diese Möglichkeit hat auch unser Sohn. Wenn Giulio irgendwann einen Abschluss machen will, müsste er dafür auf jeden Fall ein Jahr lang zur Schule gehen. Ich bin mir sicher, dass er das dann auch macht. Er hat dann ein bestimmtes Ziel, das er erreichen möchte – und dafür sind Kinder auch bereit, Opfer zu bringen. Kinder die laufen lernen wollen, nehmen ja auch in Kauf, dass sie ständig hinfallen und sich wehtun.
Und wenn Ihr Sohn jetzt schon in eine Schule gehen möchte?
Horlacher: Wir ziehen regelmäßig mit ihm los und schauen uns Schulen an. Das haben wir damals im Kindergarten auch gemacht. Wir können ja schlecht sagen, dass er nicht in den Kindergarten oder die Schule will, wenn er nicht weiß, was das eigentlich ist.
Die Familie Horlacherbesteht aus: Mutter Larissa, Vater Oliver, Giulio (6), Susanna (4) und Katharina (1). 2015 beschlossen die Eltern, sich mit einem Online-Unternehmen selbstständig zu machen, ihr Einfamilienhaus in der Nähe von Aalen (Baden-Württemberg) zu verkaufen und ihren Traum einer Familien-Weltreise zu verwirklichen. Seitdem ist die Familie mit dem Wohnmobil unterwegs. Derzeit reisen sie durch Deutschland.
Die Horlachers haben sich aus Deutschland abgemeldet, weshalb die Kinder auch nicht unter die Schulpflicht fallen. Sie bekommen also auch kein Eltern- oder Kindergeld. In anderen Ländern, wie zum Beispiel in Großbritannien, gibt es statt einer Schulpflicht nur eine Bildungspflicht.
Die nächsten geplanten Stationen sind Portugal, Zypern und Thailand. Auf ihrem Blog, auf Youtube und auf ihrem Instagram-Kanal berichtet die Familie über das Familienleben auf Weltreise, vegane Ernährung und freies Lernen.
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