Der junge Mann dreht eine Frankreich-Fahne in der Hand und wartet in der Pariser Metrostation „Iéna“ auf den nächsten Zug. Beim letzten waren die Waggons schon überfüllt – mit Passagieren, die wie er die Veranstaltung des ultrarechten Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour besucht haben. Darauf angesprochen, lächelt er wie beseelt. „Haben Sie das gesehen? Es war unglaublich, diese Begeisterung zu spüren“, sagt er mit leuchtenden Augen. Nichts an Zemmour sei rechtsextrem. „Rechts ja, aber was soll extrem daran sein zu sagen, wir lassen keine Ausländer mehr herein? Frankreich kann es sich nicht mehr leisten, die Armen der ganzen Welt aufzunehmen.“
Für seine größte Kundgebung in Paris im laufenden Präsidentschaftswahlkampf wählte Zemmour den Trocadéro-Platz, gleich beim Eiffelturm. Großleinwände, Frankreichfahnen, viel junges Publikum. Viele, die dem Kandidaten zujubelten wie einem Rockstar, stammen aus der Mittelschicht.
Zemmours Botschaft: Frankreich steht am Abgrund
Zemmour war bislang Journalist und Autor von Bestsellern mit Titeln wie „Der französische Suizid“. Seine Kernbotschaft: Frankreich stehe am Abgrund. Schuld daran seien erstens die Ausländer und zweitens die Eliten. Als deren Mustervertreter gilt Präsident Emmanuel Macron, der frühere Elitehochschüler und Ex-Banker.
„Macron, Mörder!“, schallte es aus der Menge. Zemmour schritt nicht ein. Er habe die Rufe nicht gehört, sagte er später. Der 63-Jährige tritt bei den Wahlen am 10. und 24. April als einziger Newcomer an. Mehrmals wurde der Sohn jüdischer Algerienfranzosen, die nach der Unabhängigkeit Algeriens zurück nach Frankreich gingen, für seine Tiraden gegen Muslime und Einwanderer wegen Volksverhetzung verurteilt. Er klingt radikaler als die Rechtspopulistin Marine Le Pen, doch ihre Programme ähneln einander. Beide fordern einen Einwanderungsstopp und die Beschneidung der sozialen Rechte von Ausländern.
Mit Zemmour erreicht das rechte Lager zusammen über 30 Prozent
Während Le Pen derzeit mit bis zu 20 Prozent rechnen kann, liegt Zemmour mit 10,5 Prozent fast gleichauf mit der Republikanerin Valérie Pécresse und hinter dem Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon mit 14 Prozent. Zusammengenommen erreicht das rechtsextreme Lager über 30 Prozent. Zählt man noch die Stimmen für Mélenchon dazu, so ergibt sich, dass mehr als die Hälfte der Menschen in Frankreich Populisten zuneigen, sagt Éric Decouty, Autor des Buchs „Sie wollen die Demokratie töten“.
Woran das liegt? „Wir befinden uns in einer derart komplexen Welt, dass jede einfache Erklärung als Erleichterung wahrgenommen wird“, sagt Decouty. „Der Populismus stützt sich auf die Ablehnung eines hypothetischen ,Systems‘ der Medien, Politiker, Wissenschaftler.“ Soziale und wirtschaftliche Krisen seien dafür „fruchtbares Terrain“. Und davon gab es zuletzt einige.
Auf die monatelangen Proteste der „Gelbwesten“ folgte der massive Widerstand gegen Macrons geplante Rentenreform und schließlich jener gegen die Anti-Corona-Maßnahmen. In Frankreich, wo der Präsident eine starke Stellung gegenüber dem Parlament und der Opposition hat, verlagern sich viele Kämpfe auf die Straße. Umfragen zeugen seit langem von großem Misstrauen gegenüber Medien und Politik. „Fast neun von zehn Franzosen sind überzeugt davon, dass die Politiker Entscheidungen gegen die Interessen der Bürger treffen“, sagt der Politikberater Mathieu Souquière.
Macron hatte versprochen, die extremen Rechten zu schwächen
Die traditionellen Volksparteien könnten das zweite Mal in Folge die Stichwahl verpassen. Umfragen sagen der Sozialistin Anne Hidalgo höchstens drei Prozent voraus. Auch die Republikaner sind eingeklemmt zwischen den Rechtsextremen und Macron mit einem fast identischen Programm. Indem Macron Schwergewichte der einstmals großen Parteien abwarb, schwächte er diese dauerhaft – nicht aber die extreme Rechte, wie er es versprochen hatte. Im Gegenteil.
Der Wunsch vieler Linkswähler nach einem Einheitskandidaten brachte zuletzt Jean-Luc Mélenchon nach vorne. Ein höherer Mindestlohn, die Rente ab 60 und der Austritt Frankreichs aus der Nato gehören zu seinen Versprechen. Der 70-Jährige gilt als Volkstribun. Wie bei Zemmour verwandelte sich seine größte Kundgebung auf dem Platz der Republik in Paris in eine Art Volksfest mit Musik. Mélenchon sei für ihn kein Populist, sondern die ganz konkrete Hoffnung auf ein neues System, sagt ein junger Mann. Das verbindet ihn und die Zemmour-Anhänger.