Ihre Ernennung zur französischen Premierministerin war die erste Überraschung durch Emmanuel Macron zu Beginn seiner zweiten Amtszeit vor einem Jahr. Eine Art Sicherheitsentscheidung des Präsidenten, der wusste, dass ihm Élisabeth Borne loyal zuarbeiten würde, ohne ihn je in den Schatten zu stellen, so wie das bei ihrem Vorgänger, Édouard Philippe, der Fall war. „Technokratisch“ ist das erste Adjektiv, das den meisten beim Namen von Macrons früherer Verkehrs- und Arbeitsministerin einfällt.
Borne gilt als arbeitsam, zäh und sehr diskret. „La Secrète“, auf Deutsch etwa „Die Geheimnisvolle“ oder auch „Die Geheimnistuerische“, lautet dementsprechend der Titel einer neuen Biografie der Journalistin Bérengère Bonte über sie. Diesem Beinamen machte die 62-Jährige seither alle Ehre, indem sie versuchte, in einer eventuellen Neuauflage Passagen streichen zu lassen, in denen es um ihre Gesundheit, ihre Familie, ihre sexuelle Orientierung und ihren angeblichen Lebensgefährten geht. Borne wolle sich der „Tyrannei der Transparenz nicht unterziehen“, begründete ihre Anwältin Émilie Sudre bei einer Gerichtsverhandlung vor einigen Tagen dieses Vorgehen. Die Justizentscheidung soll Ende Juni fallen.
Autorin der Biografie über Élisabeth Borne ist überrascht
Die Autorin wurde vom Widerstand der Regierungschefin überrascht. Sie habe kein Sensationsbuch geschrieben, sagte Bérengère Bonte und ließ zugleich wissen, dass sie durchaus Material dafür gehabt hätte. Borne habe sie zweimal zu langen Interviews empfangen. „Sie öffnete mir auch andere Türen, gab mir die Kontakte ihrer Schwester, ihrer Freundinnen. Diese hätten nicht ohne ihre Zustimmung über diese für sie heiklen Themen gesprochen.“ Dazu gehörten unter anderem die Gerüchte über ihre angebliche Homosexualität und eine mögliche Partnerin. Borne, die Mutter eines Sohnes und von dessen Vater geschieden ist, dementierte diese stets, unter anderem im Magazin der LGBT-Gemeinschaft Têtu. Sie erwähnte sogar ihren Lebensgefährten, der teils in der Bretagne wohne. Bonte ging dem nach und fand heraus, dass der Besagte, Patrice Obert, in der Politik tätig und laut seiner Homepage seit 2021 fest mit einer anderen Frau liiert ist. „Wenn er Segellehrer wäre, wäre es kein Thema, aber er hat ein sehr politisches Profil“, rechtfertigte Bonte ihre Recherchen, welche die Premierministerin als unzulässige Einmischung in ihr Privatleben ansah. Warum aber hatte sie Obert überhaupt ins Spiel gebracht?
In dem Buch geht es auch um eine mögliche Essstörung. Großer Stress wirke sich notgedrungen auf die Gesundheit von Politikern aus, sagte Bonte: „Borne widersteht dem, das ist ja das Bemerkenswerte.“ Ihre dramatische Familiengeschichte könne diese Standfestigkeit und Härte erklären. Bornes Vater, ein aus Polen nach Frankreich eingewanderter Jude und engagierter Widerstandskämpfer, hatte die Deportation in die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt, nahm sich aber später das Leben, als sie elf Jahre war. Als Kriegswaise erhielt sie staatliche Förderung, ließ sich in zwei Elitehochschulen zur Ingenieurin ausbilden und machte eine brillante Karriere in verschiedenen Ministerien und Unternehmen, als Präfektin, Präsidentin des Betreiberunternehmens der öffentlichen Verkehrsmittel in Paris RATP und schließlich Ministerin unter Macron.
Frankreichs Regierungschefin muss viel Kritik einstecken
Da sie lange der Sozialistischen Partei nahestand und unter anderem Stabschefin der Ex-Umweltministerin Ségolène Royal war, wird sie dem linken Flügel von Macrons Partei Renaissance zugerechnet. Im Kampf um die umstrittene Rentenreform, die inzwischen beschlossen ist, leitete Élisabeth Borne die Verhandlungen mit den Gewerkschaften, die unfruchtbar verliefen. Die Regierungschefin, die erst die zweite Frau in diesem Amt ist, musste viel Kritik einstecken. Seit Monaten wird über ihre mögliche Absetzung spekuliert. Gerade wies Macron sie für ihre zu „moralische“ Abkanzelung der rechtsextremen Partei Rassemblement National zurecht. Am Mittwoch erneuerte er zwar am Rande eines EU-Gipfels in Bratislava sein Vertrauen in sie. Doch für wie lange?
Borne bleibt derweil standfest. Kritik scheint an ihr abzuprallen. Sie sei „eine interessante, sehr komplexe Person“, sagte ihre Biografin von ihr. Das Buch stelle sie als fleißige, engagierte Politikerin dar. Dass sie juristisch dagegen vorgehe, weil ihr bestimmte Passagen nicht passen, sei beunruhigend: „Das wirft die Frage auf, ob man noch recherchieren und etwas über die Premierministerin veröffentlichen darf.“