Sie war die Erste, die öffentlich das Wort ergriff; das ließ sich Marine Le Pen an diesem Sonntagabend nicht nehmen. Gerade einmal zehn Minuten nach offizieller Bekanntgabe der Ergebnisse des ersten Wahlgangs der französischen Parlamentswahlen stellte sich die Rechtsextreme triumphierend bei der Wahlparty in der nordfranzösischen Stadt Hénin-Beaumont auf die Bühne. „Herzlich“ danke sie ihren Wählern für ihr „Vertrauen, das mich ehrt und verpflichtet“, so die 55-Jährige.
Zwei Erfolge kündigte sie an: Sie selbst wurde hier in ihrer historischen Hochburg auf Anhieb mit 58 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Und ihre Partei Rassemblement National (RN) lag wie erwartet mit 34 Prozent der Stimmen vorne. „Ma-rine, Ma-rine“, skandierte ihre Anhänger und schwenkten Frankreich-Fahnen.
Ebenso wenig überraschend wie Le Pens Erfolg war die Schlappe für das Lager von Präsident Emmanuel Macron, das auf rund 21 Prozent der Stimmen kam, während das Links-Bündnis Neue Volksfront 29 Prozent erreichte. Die Republikaner, von denen ein Teil, darunter der bisherige Parteichef Éric Ciotti, zum RN übergelaufen war, erzielten ein enttäuschendes Ergebnis von zehn Prozent.
Noch vor der zweiten Wahlrunde am kommenden Sonntag ist klar, dass sich die Zusammensetzung der Nationalversammlung tief greifend verändern dürfte. In jedem Fall dürfte für Macron das Regieren noch komplizierter werden als bisher, wo er über eine relative Mehrheit verfügte.
Frankreich-Wahl: Macron unterschätzte, auf wie viel Ablehnung im Land er stößt
Der Staatschef hatte am Abend der EU-Wahlen die Auflösung der Nationalversammlung angekündigt und kurzfristig Neuwahlen angesetzt. Das Kalkül dahinter bestand Beobachtern zufolge darin, gemäßigte Konservative und Sozialisten auf seine Seite zu ziehen, um eine Art große Koalition zu bilden. Doch die Rechnung ging nicht auf. Die linken Parteien einigten sich auf eine Aufteilung aller Wahlkreise, um sich fast nirgends gegenseitig Konkurrenz zu machen und damit die eigenen Chancen zu erhöhen. Macron hatte zudem unterschätzt, auf wie viel Ablehnung er persönlich stößt. Selbst Kandidaten seines eigenen Lagers weigerten sich, sein Abbild auf ihr Wahlkampfmaterial drucken zu lassen.
Macron selbst rief am Wahlabend zu einem „klar demokratischen und republikanischen Zusammenschluss“ gegen den RN auf. Doch ist er auch bereit, Kandidaten der Linkspartei LFI (La France Insoumise, „Das unbeugsame Frankreich“) zu unterstützen und eine „republikanische Front“ gegen die Rechtsextremen zu bilden, wie es jahrzehntelang Usus war?
Vor der ersten Wahlrunde hatte Macron vor „den Extremen“ links und rechts gleichermaßen gewarnt. „Es wäre unverständlich, wenn manche weiterhin keinen Unterschied zwischen der Linken und den Rechtsextremen machen“, sagte Grünen-Chefin Marine Tondelier. Premierminister Gabriel Attal sagte am Wahlabend, es dürfe keine Stimme an den RN gehen. „Frankreich verdient es, dass man nicht zögert.“ Es sei eine „moralische Pflicht“, um „das Schlimmste“ zu verhindern: Die absolute Mehrheit für die Rechtsextremen. Die Republikaner verzichteten ihrerseits ganz auf eine Wahlempfehlung.
Hohe Wahlbeteiligung bei Wahl in Frankreich
Ersten Schätzungen zufolge könnte der RN schließlich zwischen 230 und 280 Sitze erreichen; nötig wären 289. Doch nur im Fall einer absoluten Mehrheit will der 28 Jahre alte Parteichef, Jordan Bardella, Premierminister werden und die Regierung stellen. Hatte er sich in den vergangenen Tagen bei öffentlichen Auftritten siegesgewiss gezeigt, so versprach er zwar am Sonntag, er werde ein „Premierminister für das Alltagsleben“ mit den Prioritäten Kaufkraft, Sicherheit, Ordnung „und natürlich die Einwanderung“. Aber noch nichts sei gewonnen, fügte er in einem ungewöhnlich Anflug von Bescheidenheit hinzu.
Das trifft zu, denn entscheidend wird sein, in welchen Wahlbezirken sich welche Kandidaten zurückziehen. „Am Abend einer ersten Wahlrunde heißt es oft, eine neue Kampagne beginnt - dieses Mal trifft dies mehr zu denn je“, analysierte der Politikwissenschaftler Brice Teinturier. Trotz des Beginns der Sommerferien in Frankreich zeigten sich die Menschen sehr interessiert an dieser Wahl: Die Beteiligung lag mit 66 Prozent so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr.