Oft haben die Umfragen in Frankreich die Rechtsextremen im Vorfeld überschätzt – bei der Parlamentswahl am Sonntag trat das genaue Gegenteil ein. Der Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen triumphierte ebenso eindeutig wie überraschend. Bislang hatte die Partei nicht einmal eine Fraktion in der Nationalversammlung bilden können, für die mindestens 15 Abgeordnete nötig sind, da das Mehrheitswahlrecht die extremen Parteien benachteiligte. Nun erreichte der RN ersten Auszählungsergebnissen zufolge 89 Mandate – so viele wie nie zuvor. Auch die bisherige Parteichefin Le Pen, die den Vorsitz seit der Präsidentschaftswahl an ihren bisherigen Stellvertreter Jordan Bardella abgegeben hat, errang einen Sitz in ihrer nordfranzösischen Hochburg Hénin-Beaumont. Offenbar kam die hohe Stimmenthaltung von 52 Prozent den Rechtsextremen entgegen. Viele Menschen hatten der Wahl mit Lustlosigkeit oder Gleichgültigkeit entgegengesehen.
Viele Französinnen und Franzosen waren mit Macron unzufrieden
Großer Verlierer ist hingegen das Lager von Emmanuel Macron – und nicht zuletzt der Präsident selbst. Die Allianz Ensemble! („Gemeinsam!“), die die seine Partei La République en marche (LREM) mit anderen liberalen Parteien geschlossen hatte, blieb zwar stärkste politische Kraft. Doch sie erhielt ersten Hochrechnungen zufolge nur 224 Mandate und verfehlte damit die absolute Mehrheit von mindestens 289 der 577 Sitze. Vor fünf Jahren war dies noch gelungen; seither aber verloren Macron und seine Partei viel Zustimmung in der Bevölkerung. Seine Wiederwahl zum Präsidenten im April war auch bedingt durch fehlende überzeugende Alternativen. „Wir haben schon bessere Abende erlebt“, räumte Regierungssprecherin Olivia Grégoire ein. Ihr Lager habe einen „enttäuschenden ersten Platz, aber immerhin einen ersten Platz“ errungen.
Das Regieren dürfte künftig deutlich schwieriger werden, denn Macron wird von der Zustimmung oppositioneller Parteien abhängig sein, um Mehrheiten für seine Gesetze zu bekommen. Darüber hinaus ist er ohnehin auf seine Partner angewiesen, ohne die LREM nur 154 Sitze errungen hätte. Seit der Umgestaltung des Wahlkalenders 2002, durch den die Wahl des Parlamentes wenige Wochen auf jene des Präsidenten folgt, ist eine solche Konstellation nicht mehr vorgekommen.
Als am wahrscheinlichsten gilt, dass Macron, beispielsweise bei der Umsetzung der umstrittenen Rentenreform, Allianzen mit den konservativen Republikanern suchen wird. Diese holten rund 78 Sitze – das sind zwar weniger als bisher, aber sie sicherten nach dem enttäuschenden Ergebnis von 4,8 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen doch ihre politische Zukunft.
Mélenchon führt die mächtigste Oppositionsgruppe
Das Linkbündnis Nupes, eine Abkürzung für „neue ökologische und soziale Volks-Union“, konnten die eigenen hohen Erwartungen nicht erfüllen. Dieser neuartige Zusammenschluss der Linkspartei La France Insoumise („Das unbeugsame Frankreich“), der Sozialisten, Grünen und den Kommunisten hatte auf eine eigene absolute Mehrheit gehofft, um selbst den Premierminister zu stellen. Den Anspruch darauf hatte der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon erhoben – damit ist der 70-Jährige gescheitert. Dennoch hat seine Initiative dem linken Lager wieder mehr Bedeutung zuteilwerden lassen.
In den nächsten Tagen oder Wochen könnte eine geringfügige Regierungsumbildung anstehen – auch um möglichen Partnern entgegenzukommen. Insgesamt 15 Minister des neuen Kabinetts waren angetreten, um sich im Falle eines Wahlsiegs als Parlamentarier zwar vertreten zu lassen, aber doch mehr politisches Gewicht als gewählte Volksvertreter zu haben. Mehrere von ihnen hatten aber um einen Sieg und damit ihren Posten zu fürchten. Die Staatssekretärin für das Meer, Justine Benin, aus Guadeloupe unterlag dem Kandidaten der Linken, ebenso wie Gesundheitsministerin Brigitte Bourguignon und der bisherige LREM-Präsident der Nationalversammlung, Richard Ferrand. Regierungschefin Elisabeth Borne siegte in ihrem Wahlkreis in Nordfrankreich.