Die umstrittene Rentenreform des französischen Präsidenten Emmanuel Macron wird kommen. Am Freitagabend erklärte der Verfassungsrat das Gesetz in seinen Kernpunkten für gültig. Kassiert wurden lediglich weniger zentrale Punkte wie die Verpflichtung für große Unternehmen, einen gewissen Anteil an über 55-Jährigen zu beschäftigen und Senioren unbefristete Verträge anzubieten. Diese Maßnahmen kann die Regierung später in ein Arbeitsmarktgesetz integrieren.
Damit steht der schrittweisen Erhöhung des Renten-Mindestalters von 62 auf 64 Jahre ab Herbst nichts mehr im Weg. Für Macron ist dies eine Genugtuung, denn es handelte sich um das wichtigste Projekt seiner zweiten Amtszeit, die vor einem Jahr begann. Aber es ist schwer erkämpft gegen den Widerstand der Opposition, welche mehrere Verfassungsklagen eingereicht hatte, der Gewerkschaften und einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung.
Kritiker argumentieren, dass die Reform viele Gruppen benachteiligt
Da die Reform neben der Erhöhung der Altersgrenze auch die Beschleunigung der notwendigen Einzahldauer auf 43 Jahre für eine abschlagsfreie Pension vorsieht, argumentieren die Kritiker, dass vor allem Menschen, die früh in den Job eingestiegen sind und oftmals körperlich anstrengende Arbeiten vollbringen, benachteiligt werden. Dasselbe gilt für Frauen, die ihre beruflichen Karrieren öfter für die Kindererziehung unterbrechen und im Schnitt schlechter gestellt werden als Männer.
Erst am Donnerstag hatten beim zwölften Streik- und Protesttag erneut zigtausende Menschen in ganz Frankreich gegen das Gesetz demonstriert. Den Sitz des Verfassungsrates in Paris gegenüber dem Louvre riegelte seitdem ein großes Aufgebot an Sicherheitskräften ab. Zu sehr wurden gerade hier Unruhen befürchtet.
Eine Ablehnung der Reform durch den Verfassungsrat wäre eine Überraschung gewesen
Seit seiner Gründung im Jahr 1958 hat die Instanz als oberste Hüterin der französischen Verfassung nur 17 Gesetze komplett kassiert. Die neun Mitglieder, drei Frauen und sechs Männer, gelten als regierungsnah, weil sie teils vom Präsidenten, teils vom Parlament ernannt werden. Manche waren selbst einmal in Regierungsverantwortung. Das gilt für den Vorsitzenden, den sozialistischen Ex-Premier Laurent Fabius, wie auch für den konservativen ehemaligen Regierungschef Alain Juppé.
Eine Ablehnung der Pensionsreform wäre eine Überraschung gewesen, obwohl vor allem die Art und Weise, wie die Regierung sie durchdrückte, auch unter Verfassungsrechtlern umstritten ist. Indem sie sie als Nachtragshaushalts-Gesetz zur Sozialversicherung deklarierte, konnte sie dieses in Turbogeschwindigkeit durch das Parlament bringen.
Spezialist für öffentliches Recht: „Es gibt keine Dringlichkeit für die Reformierung des Rentensystems“
Nur 35 Tage durften die Abgeordneten debattieren. Der Senat segnete es schließlich ab, doch eine Abstimmung in der Nationalversammlung umging Regierungschefin Borne. Denn bis zuletzt erschien unsicher, ob genügend Pro-Stimmen zusammenkommen würden. Stattdessen griff Borne auf den Verfassungsartikel „49.3“ zurück, der es ihr erlaubte, die Reform zu verordnen.
Eigentlich steht der Regierung diese Art „Waffe“ nur einmal pro Sitzungsperiode zur Verfügung –außer es handelt sich um ein Haushaltsgesetz, das zeitnah beschlossen werden muss, um Blockaden zu vermeiden. Deshalb hat es die Regierung zu einem solchen erklärt. Das kritisierten viele Juristen wie Jean-Philippe Derosier, Spezialist für öffentliches Recht: „Es gibt keine Dringlichkeit für die Reformierung des Rentensystems.“
Den Gegnern der Reform bleibt noch eine minimale Hoffnung
Der Verfassungsrat lehnte außerdem die Organisation einer Volksbefragung über eine Bürgerinitiative ab. Am 3. Mai wird er über einen zweiten Antrag dazu entscheiden – den Gegnern der Reform bleibt damit eine minimale Hoffnung. Die Gewerkschaften haben eine Fortsetzung ihrer Proteste und eine Großveranstaltung am 1. Mai angekündigt. Macron soll sich zu Beginn der Woche wohl über eine Fernseh-Ansprache an seine Landsleute wenden.
Dass es ihm gelingt, sie zu besänftigen, erscheint aber sehr unwahrscheinlich. Noch am Freitagabend strömten Menschen in vielen Städten auf den großen Plätzen zusammen, um ihren Widerstand und ihre Wut auszudrücken. Auch für Samstag wurden etliche Protestaktionen angekündigt.
Die Gewerkschaften kündigten außerdem an, eine Einladung Macrons zu einem Treffen am Dienstag nicht anzunehmen. Begründet wurde dies damit, dass der Präsident monatelang Beratungen aus dem Weg gegangen sei. Der Chef der größten französischen Gewerkschaft CFDT, Laurent Berger, schrieb: "Um aus der sozialen Krise zu kommen, verlangt es die Weisheit, das Gesetz nicht zu verkünden."
Der Sender BFMTV berichtete jedoch aus dem Umfeld des Präsidenten, Macron werde die Reform binnen weniger Tage in Kraft setzen. Arbeitsminister Olivier Dussopt kündigte an, sie solle vom 1. September an greifen. (mit dpa)