Das Video ist inszeniert. Es wirkt, als spräche nicht eine Parteipolitikerin vom rechten Rand zu ihren Anhängern, sondern eine Präsidentin, ja fast eine Art Mutter der Nation, zu ihrem Volk. Im schwarzen Blazer sitzt sie vor einer Frankreich-Fahne an einem Schreibtisch und setzt eine besorgte Miene auf. „Liebe Landsleute“, beginnt Marine Le Pen in ernstem Tonfall. „Seit mehreren Tagen herrscht im Land ein sich ausbreitender Zustand des Chaos‘, der Gewalt und Zerstörung.“ Kein noch so dramatisches Ereignis legitimiere Anarchie.
Die Fraktionsvorsitzende des rechtsextremen Rassemblement National in der Nationalversammlung spielte auf die Unruhen an, die auf die Erschießung des 17-jährigen Nahel durch einen Polizisten bei einer Verkehrskontrolle in der französischen Vorstadt Nanterre vor einer Woche folgten. Die letzten Nächte verliefen ruhiger, doch die Lage bleibt angespannt. Le Pen sprach den Ordnungskräften „ihre ganze Unterstützung“ aus und verurteilte „die von einer zerstörerischen Wut ergriffenen Horden“, verzichtete aber darauf, pauschal mit dem Finger auf Einwanderer und deren Nachkommen zu zeigen.
Marine Le Pen hält sich staatstragend zurück
Die Aufzeichnung gehört zu den wenigen öffentlichen Äußerungen Le Pens seit Nahels Tod. Sie verfolgt dieselbe Strategie wie bei den Debatten der Rentenreform im Frühjahr, als sie sich nicht an den Kundgebungen beteiligte und keine Alternativvorschläge machte. Auch jetzt wird die 54-Jährige in Umfragen als die Politikerin wahrgenommen, deren Haltung die meisten Menschen gutheißen. 39 Prozent sind es derzeit, gegenüber 33 Prozent, die hinter Präsident Emmanuel Macron stehen. 24 Prozent befürworten die Reaktion des Chefs der konservativen Republikaner, Éric Ciotti.
Ciotti steht, ebenso wie der ultrarechte Journalist Éric Zemmour, für eine betont harte Linie. Beide forderten sofort den Ausnahmezustand und stellten sich unmissverständlich hinter die Polizei, obwohl gegen den involvierten Beamten wegen vorsätzlicher Tötung ermittelt wird. Le Pen hingegen sagte, der Tod eines jungen Mannes „kann niemanden gleichgültig lassen“ und versicherte, sie wolle „die Justiz arbeiten lassen“.
Die Rassemblement National setzt auch auf Stimmen von Menschen mit Migrationshintergrund
Sie wolle sich einerseits in die politische Mitte stellen, in dem sie Ciotti und Zemmour in die rechtsextreme Ecke verweise, sagt der Politologe Luc Rouban. „Zugleich verzichtet sie darauf, die Einwanderung zu kritisieren, um zu betonen, dass sie die seriösen Leute unterstützt.“ Bei Menschen mit Migrationshintergrund, die eine autoritäre politische Haltung oft gutheißen, gebe es großes Wähler-Potenzial. Doch sie repräsentiert nur die eine Seite ihrer Partei, die in ihrem Programm weiterhin eine „nationale Priorität“ bewirbt, die systematische Bevorzugung von Franzosen bei der Vergabe von Jobs, Sozialhilfen und -wohnungen. Die Rollen sind klar verteilt zwischen Le Pen und Parteichef Jordan Bardella. Der 27-Jährige ist allgegenwärtig in den Medien, wo der Sohn italienischer Einwanderer das „unmögliche Zusammenleben auf unserem Boden mit Leuten, denen wir alles gegeben haben“, beklagt.
Auch eine Spendensammlung für die Familie des Polizisten Florian M., der Nahel erschossen hat, wurde von einem Rechtsextremen lanciert: Jean Messiha. Der ehemalige Kader des RN wechselte später zu Zemmours Partei „Reconquête!“ („Wiedereroberung!“), nahm nach dessen schwachem Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl jedoch auch von ihm Abstand. Durch seine Teilnahme an einschlägigen Talkshows ist er in Frankreich bekannt. Rund eineinhalb Millionen Euro kamen bis gestern Nachmittag zusammen, während rund 250.000 Euro in den Sammeltropf für die Familie des getöteten Nahel M. eingingen.