100 Tage hatte sich Emmanuel Macron gegeben, um „das Land zu beruhigen“. Der Stichtag sollte am 14. Juli sein, dem französischen Nationalfeiertag. Angekündigt hatte der Präsident das im April. Damals war seine unpopuläre Rentenreform ohne abschließendes Votum im Parlament beschlossen worden. Seitdem reiste er durchs Land, machte Versprechungen, kündigte Verbesserungen etwa in den Bereichen Schulbildung und medizinische Versorgung an. Seine Beliebtheitswerte stiegen. Zuletzt konnte Macron sogar wieder ein Bad in der Menge nehmen, ohne dass es durch Protestrufe gestört wurde.
Doch der gewaltsame Tod des 17-jährigen Nahel bei einer Polizeikontrolle in der Pariser Vorstadt Nanterre und die darauffolgenden Unruhen im ganzen Land machen diese Pläne zunichte. Mehr denn je befindet sich Frankreich in Aufruhr. Der Staatschef werde danach beurteilt, ob es ihm gelingt, die Spannungen zu beruhigen, sagt Jean Garrigues, Spezialist für politische Geschichte: „Die Gefahr besteht für ihn darin, als schwach und unentschlossen zu erscheinen.“ Der Bereich innere Sicherheit gilt nicht als Macrons Stärke. Mit Gérald Darmanin hat er das Innenministerium mit einem Hardliner besetzt, um Vorwürfe der Laxheit, die ihm die Republikaner und die Rechtsextremen machen, abzufedern. Die rechten Oppositionsparteien überbieten sich gegenseitig mit Forderungen nach einem harten Durchgreifen. „Man darf diesen Barbaren in nichts nachgeben“, rief Republikaner-Chef Éric Ciotti.
Jacques Chirac reagierte 2005 zu spät auf Unruhen
Seinen für Wochenbeginn geplanten Staatsbesuch in Deutschland hat Macron abgesagt. Der frühere Präsident Jacques Chirac hatte bei den Krawallen in den französischen Vorstädten, den Banlieues, im Jahr 2005 mehrere Tage und Nächte verstreichen lassen, bevor er eine öffentliche Erklärung abgab und den Ausnahmezustand ausrief. Auslöser für die damaligen Unruhen war der Tod zweier Minderjähriger auf der Flucht vor der Polizei. Chiracs damaliger Innenminister und späterer Nachfolger, Nicolas Sarkozy, stellte sich sofort hinter die Sicherheitskräfte, noch bevor die Untersuchung der Vorfälle überhaupt begonnen hatte.
Macron hingegen reagierte noch am Tag selbst. Er nannte Nahels Tod „unerklärbar, unentschuldbar“ und brachte damit eine Polizei-Gewerkschaft gegen sich auf, die eine Vorverurteilung des Schützen beklagte. In der Folge kritisierte Macron aber auch deutlich die Zerstörungen von Autos, Schulen, Kindergärten oder Trambahnen. Es handele sich um die „inakzeptable Instrumentalisierung des Todes eines Jugendlichen“.
Präsident Macron empfängt Bürgermeister
An diesem Dienstag empfängt der Präsident nun die Bürgermeister von mehr als 220 Kommunen, deren Rathäuser beschädigt worden waren. Die Vereinigung der französischen Bürgermeister rief am Montagmittag zu einer bürgerlichen Zusammenkunft auf, um eine „Rückkehr zur republikanischen Ordnung“ zu fordern. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hatten Unbekannte mit einem gestohlenen Auto das Wohnhaus des Bürgermeisters der Pariser Vorstadt L‘Haÿ-les-Roses, Vincent Jeanbrun, gerammt, in dem seine Frau und seine beiden fünf und sieben Jahre alten Kinder schliefen. Die Täter versuchten sogar, das Haus anzuzünden. Die Frau und eines der Kinder wurden verletzt. „Ich habe keine Worte, die stark genug sind, um meine Gefühle nach dem Horror dieser Nacht zu beschreiben“, sagte Jeanbrun.
Die Nächte auf Sonntag und auf Montag verliefen ruhiger, es gab weniger Zerstörungen, Festnahmen und Verletzte. Langfristig werden die Erwartungen gegenüber Macron steigen, Antworten auf die tiefer liegenden Gründe für diese Krise zu finden. Wie umgehen mit den Vorwürfen gegen die Polizei, unangemessen gewaltsam vorzugehen und zu schnell beim Einsatz von Waffen zu sein? Wie umgehen mit der sozialen Misere in manchen Banlieues, dem dort fortbestehenden Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein? Wie umgehen mit Gruppen, die jede Gelegenheit nutzen, um ihrem Zorn freien Lauf zu lassen?
Als Nahel M. erschossen wurde, befand sich Macron gerade auf einem dreitägigen Besuch in Marseille, seiner Lieblingsstadt, die mit schweren Problemen kämpft. Um die Armut, die Kriminalität, den Drogenhandel zu bekämpfen, legte er vor zwei Jahren ein Programm auf, bei dem der Staat fünf Milliarden Euro unter anderem in die Renovierung von Häusern und Schulen steckt. Künftig wird erwartet, dass er sich mit seinen Ideen, hohen Investitionen und dem Versprechen einer tiefgreifenden Veränderung nicht nur auf die Stadt am Mittelmeer konzentriert, sondern auf das ganze Land.