Immer dann, wenn er in einer politischen Sackgasse steckte, sprach François Hollande gerne von einem "Werkzeug-Kasten" oder einer Art "Ideen-Kiste", die er nun auspacke. In Ansprachen erklärte der frühere französische Präsident dann seine Pläne, um die Menschen wieder von sich zu überzeugen – meist vergeblich. 2017 trat er erst gar nicht mehr an, zu aussichtslos erschien so ein Vorhaben.
Emmanuel Macron drückte sich etwas eleganter aus, aber die Situation erinnerte an Hollandes verzweifelten Griff in die vermeintlich rettende politische "Ideen-Kiste". Anfang der Woche versucht er so in einer TV-Rede, das schwierige Kapitel der Rentenreform, die seit Monaten heftigen Gegenwind erhält, abzuschließen. "Drei große Baustellen" wolle er angehen, nämlich Arbeit, Gerechtigkeit und Fortschritt, so der 45-Jährige. Er versprach unter anderem eine Reform der Berufsschulen, die Einstellung von 10.000 neuen Richtern, eine bessere Bezahlung der Lehrer, eine Entlastung der Notaufnahmen. "Alles nichts Neues", kommentierte die Presse, die den Auftritt analysierte als Versuch Macrons, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
Die staatlichen Wohltaten während der Corona-Krise scheinen in Frankreich vergessen
Noch während der Ansprache versammelten sich auf einen Aufruf der Nichtregierungsorganisation Attac hin an 300 Orten des Landes Menschen, um als Protest auf Kochtöpfe zu trommeln. Als bei einem Besuch im Elsass wenige Tage später erneut Demonstranten ein Geschirr-Geschepper veranstalteten, sagte der Präsident, Kochtöpfe brächten Frankreich nicht voran: "Das Land besteht nicht nur aus denjenigen, die Lärm machen oder meckern." Seine Haltung, jeder solle sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, anstatt alles vom Staat zu erwarten, brachte ihm den Ruf ein, er sei unsozial. Dabei hat der Staat während der Corona-Pandemie Selbstständige und Firmen, Studenten und Künstler mit Milliarden unterstützt und bereits ab Herbst 2021 die Gas- und Energiepreise für Privathaushalte gedeckelt. Zählt das alles nicht mehr?
Am Montag jährt sich seine Wiederwahl, doch ein großer Teil der Bevölkerung ersehnt bereits das Ende dieser zweiten Amtszeit 2027. Auch wenn Macrons Regierung einiges angestoßen hat, etwa die Beschleunigung des Baus neuer Atomreaktoren sowie den Ausbau der erneuerbaren Energien, so konzentriert sich die Ein-Jahres-Bilanz auf das kraftraubende Umsetzen der Rentenreform. Weil eine klare Mehrheit im Parlament fehlte, verordnete sie die Premierministerin Élisabeth Borne ohne finale Abstimmung und überstand nur knapp einen Misstrauensantrag. Ruhe ist seither nicht eingekehrt.
Die Gewerkschaften mobilisieren in Frankreich weiter gegen die Rentenreform
Am 1. Mai wollen die Gewerkschaften wieder demonstrieren. Rund 70 Prozent der Menschen sprechen sich weiter gegen die Erhöhung der Altersgrenze von 62 auf 64 Jahre aus, vor allem aber kritisieren sie die Weise, wie Macron das Gesetz durchdrückte. Das heiße im Umkehrschluss, dass ein knappes Drittel Macron unterstütze, sagte Pieyre-Alexandre Anglade, Abgeordneter der Präsidentenpartei "Renaissance", der der Kommission für europäische Angelegenheiten in der Nationalversammlung vorsitzt: "Er hat Mut bewiesen und sich seine Basis die ganze Zeit über bewahrt."
Umfragen zeigen aber auch, dass Macron stark an Zustimmung einbüßte. 46 Prozent der Menschen sind "sehr unzufrieden" mit ihm. Parallel dazu sehen 39 Prozent die Rechtsextreme Marine Le Pen positiv, so viele wie nie zuvor. Dabei zeigte Macron sich am Wahlabend vor einem Jahr noch demütig gegenüber all jenen, die in der zweiten Runde nur für ihn gestimmt hatten, um Le Pen an der Macht zu verhindern. "Dieses Votum verpflichtet mich", sagte er. 28 Prozent der Wahlberechtigten und damit so viele Menschen wie noch nie hatten sich enthalten. Auch ihnen, so Macron "müssen wir Antworten geben".
Auch international irritiert Emmanuel Macron Frankreichs Partner
Diese sind ausgeblieben, die Vertrauenskrise hat sich verschärft. Der Präsident verfolgt weiter einen Regierungsstil, der nicht auf Konsensbildung, sondern auf schnelle Entscheidungen von oben setzt. Und konzentrierte er sich auf die Weltpolitik, so irritierte er auch dort Partner. In den ersten Monaten des Kriegs in der Ukraine ließ er mehrmals anklingen, man dürfe den russischen Kreml-Chef Wladimir Putin "nicht demütigen". Zuletzt sagte er über den Konflikt um Taiwan, Europa dürfe nicht als "Vasall" der USA auftreten und sich nicht in Krisen ziehen lassen, "die nicht die unseren sind". Als Mann der überraschenden, offenen Worte zu gelten, war lange ein Vorteil für Macron. Doch die Entzauberung hat längst eingesetzt – im eigenen Land wie auch international.