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Frankreich droht Blockade nach Wahlen

Parlamentswahl

Die blockierte Nation: Frankreich rätselt über seine künftige Regierung

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    Welches Gesicht wird Frankreich künftig zeigen? Es ist völlig unklar, wie eine neue Regierung aussehen könnte. Im Bild eine Figur am berühmten Pariser Place de la République.
    Welches Gesicht wird Frankreich künftig zeigen? Es ist völlig unklar, wie eine neue Regierung aussehen könnte. Im Bild eine Figur am berühmten Pariser Place de la République. Foto: Nathan Posner, Anadolu via afp

    Bis tief in die Nacht hinein feiern sie auf dem Place de la République, einer traditionellen Bastion der Linken in Paris. Tausende stimmen Lieder an, klatschen, fallen einander in die Arme. Manche klettern sogar mehrere Meter hinauf zur bronzenen Statue der Marianne, der Nationalfigur, die Frankreich symbolisiert. „Antifaschisten“ steht in roter Farbe auf einem dort angebrachten weißen Transparent. „Es ist ein doppelter Sieg: die Linken triumphieren, die Rechtsextremen sind ausgebremst“, ruft ein junger Mann. „Glück, Glück, Glück!“, jubelt eine Seniorin. Und weist im gleichen Atemzug schon darauf hin, was da aufs Land zukommt – nicht weniger nämlich als die Quadratur des Kreises. Oder mit den Worten der Seniorin: Dass dies jetzt nach einem solchen Ausgang der Parlamentswahlen richtig kompliziert werde, und dass ihr dies schon klar sei.

    Irgendwann in der Nacht von Sonntag auf Montag wird es dann auf den Straßen ungemütlich, es kommt zu Ausschreitungen und Zusammenstößen von Demonstranten mit der Polizei in Paris, Lille und anderen Städten. Und doch überwiegt die Feierstimmung unter den Anhängern der Linken, und zwar von dem Moment an, als die Ungläubigkeit über die ersten, überraschenden Hochrechnungen gewichen ist. Am Ende liegt das links-grüne Bündnis Neue Volksfront mit 182 Sitzen in der Nationalversammlung vor dem Lager von Präsident Emmanuel Macron mit 168 Sitzen und dem rechtsextremen Rassemblement National (RN) mit 143 Sitzen.

    Ist das so umstrittene wie riskante Spiel von Präsident Macron doch aufgegangen?

    Die Umfrageinstitute hatten eine völlig andere Konstellation vorhergesagt. Sie sahen den RN deutlich an erster und das Parteienbündnis von Macron an dritter Stelle. Aus dessen Umfeld heißt es, die hohe Wahlbeteiligung von 67 Prozent habe bestätigt, dass die Auflösung der Nationalversammlung am Abend der EU-Wahlen vier Wochen zuvor die richtige Entscheidung gewesen sei. Ist das so umstrittene wie riskante Spiel des Präsidenten also doch aufgegangen?

    Während sich das bisherige Regierungslager also besser behaupten konnte als erwartet, herrscht beim RN nun Katerstimmung. Die rechtsextreme Partei hatte sich an der Pforte zur Macht geglaubt – umso größer ist die Enttäuschung. Eine Rolle dürften auch die Enthüllungen der letzten Tage über rassistische oder antisemitische Äußerungen einiger Kandidaten gespielt haben. Bisher kannte die Öffentlichkeit in erster Linie die RN-Frontfrau Marine Le Pen, Parteichef Jordan Bardella und noch ein paar andere aus der Führungsriege, die sich vor den Kameras wohlfühlen und klar an Le Pens gemäßigte Sprachvorgaben halten. Doch alle der rund 500 in aller Eile aufgestellten RN-Kandidaten vermochte sie dann doch nicht zu kontrollieren.

    Ja, ein paar „schwarze Schafe“ habe es gegeben, räumen mehrere Partei-Vertreter ein. „Natürlich müssen wir unsere Fehler aufarbeiten“, sagt die RN-Vizepräsidentin Edwige Diaz am Montag betont sachlich. „Aber wir dürfen jetzt auch nicht den historischen Sieg übergehen, den wir errungen haben. Bis vor zwei Jahren waren wir sieben in der Nationalversammlung, dann 88 und jetzt 143.“ Tatsächlich gehört es zur Wahrheit, dass rund zehn Millionen Menschen für die Partei von Marine Le Pen stimmten. Deren Ziel, die nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 zu gewinnen, gilt weiterhin als gesetzt. Und die Gründe vieler Menschen, dem RN ihr Vertrauen zu schenken, bestehen weiter.

    Diaz beklagt vielmehr das „Geköchel“ der anderen Parteien, die sich zu „Allianzen wider die Natur“ zusammengetan hätten. In mehr als 200 Wahlbezirken, in denen sich in der ersten Runde Kandidaten der drei großen politischen Blöcke qualifiziert hatten, zogen sich Bewerber von Macrons Mitte-Lager oder der Linken zurück, um jene des RN zu verhindern – ein Vorgehen, das es in den vergangenen Jahren unter linken und bürgerlichen Parteien immer wieder gegeben hat, um die extreme Rechte zu schlagen. Die „republikanische Front“ habe funktioniert und die Glasdecke sei resistent geblieben, sagt der Chef des Meinungsforschungsinstituts Odoxa, Gaël Sliman. „Doch möglicherweise ist es für den RN langfristig gar nicht so schlecht, wenn er jetzt nicht in der Regierung und das Land ein wenig blockiert ist, weil er nicht Verantwortung übernehmen muss.“

    Das politische System in Frankreich ist von einem starken Präsidenten geprägt

    Wird Frankreich mit seinen drei großen Blöcken in der Nationalversammlung nun tatsächlich unregierbar? Diese Frage dominiert die politische Debatte am Tag danach, an dem Präsident Macron wie schon am Sonntagabend abermals nicht öffentlich in Erscheinung tritt. Allerdings berichten Augenzeugen gegenüber Medien, er habe die Ergebnisse am Wahlabend „mit einer gewissen Zufriedenheit“ aufgenommen. „Für ihn war es undenkbar, im Ministerrat Jordan Bardella gegenüberzusitzen“, verrät der Schriftsteller Bernard-Henri Lévy, einer seiner regelmäßigen Gäste. Wer aber wird nun an dem eleganten Tisch im Élysée-Palast genau gegenüber dem Präsidenten Platz nehmen und die Regierungsgeschäfte leiten? Und mit welchen Ministern?

    Das politische System in Deutschlands Nachbarland ist von einem starken Präsidenten geprägt, der direkt vom Volk gewählt wird, seinen Premier und die gesamte Regierung ernennt, dem Ministerrat vorsitzt, Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist und noch weitere Befugnisse hat. Das klingt nach einer großen Machtfülle. Was auch zutrifft, wenn der Präsident über eine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt und die Regierung eben auch aus dem eigenen Lager ist. Wenn nicht, sieht die Sache schon anders aus. Unüberwindbar sind solche Hürden nicht. Eine „Kohabitation“, wie man diese Konstellation nennt, hat es in der Geschichte des Landes schon einige Male gegeben.

    Einen sofortigen Wechsel der Regierung, so viel ist klar, gibt es nicht. Der bisherige Premierminister Gabriel Attal hat noch am Sonntagabend in einer kämpferischen Rede angekündigt, dem Präsidenten an diesem Montag seinen Rücktritt anzubieten, so wie es die Verfassung vorsieht. Im Anschluss an das Gespräch teilt der Élysée-Palast dann allerdings mit, Macron habe Attal gebeten, „für den Moment“ in seiner Funktion zu bleiben, um „die Stabilität des Landes abzusichern“. Formal gibt es keine Frist, bis zu der eine Regierung stehen muss. Allerdings kommt das Parlament in seiner neuen Zusammenstellung am 18. Juli erstmals zusammen. Nur eine Woche später beginnen die Olympischen Spiele in Paris – der schlechteste Zeitpunkt für eine Regierungskrise oder zumindest Unsicherheit an der Spitze des Landes.

    Mehrere Optionen bieten sich an, sagt Luis Sattelmayer, Forscher am Zentrum für Europäische Studien CEE an der Elitehochschule Sciences Po in der Hauptstadt. „Rein theoretisch kann Macron zum Premierminister ernennen, wen er möchte, aber angesichts seiner fehlenden Mehrheit in der Nationalversammlung besteht das Risiko, dass es bei der ersten Abstimmung zu einem Misstrauensvotum kommt.“ Dasselbe könnte den Linken passieren, sollten sie sich auf eine Person einigen, die nicht mehrheitsfähig ist. „Entweder es gelingt die Bildung von Koalitionen, die es in der seit 1958 bestehenden Fünften Republik nicht gab“, so der Experte. „Oder es gibt eine Minderheitsregierung, wie Macron sie im Grunde seit zwei Jahren hatte, wo er mithilfe der Republikaner viele Gesetze durchgeboxt hat.“ Als weitere Möglichkeit wird eine Regierung aus „Technokraten“ statt Parteipolitikern genannt, die das Land verwalten. Zunächst dürfte der Präsident abwarten, bis sich die Fraktionen herausbilden.

    Akzeptiert das Linksbündnis Jean-Luc Mélenchon als Galionsfigur?

    Mehrere Vertreter der Neuen Volksfront kündigen an, noch in dieser Woche den Vorschlag für einen neuen Premierminister oder eine -ministerin zu machen. Dafür muss das Bündnis zunächst eine Grundsatzfrage beantworten: Akzeptiert es Jean-Luc Mélenchon als Galionsfigur oder nicht? Der langjährige Chef der Linkspartei LFI (La France Insoumise, „Das unbeugsame Frankreich“) selbst will wohl schnellstmöglich Fakten schaffen, noch am Wahlabend stellt er sich wenige Minuten nach der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse ans Mikrofon und schickt gewohnt wortgewaltig seine ersten Drohungen in Richtung Präsident.

    „Macron muss der Neuen Volksfront den Regierungsauftrag erteilen“, tönt er. „Sie wird ihr Programm anwenden, nichts als ihr Programm, aber ihr ganzes Programm.“ Einen Teil der Maßnahmen zählt der 72-Jährige auf, darunter die Rücknahme der letzten Rentenreform, eine staatliche Regulierung von Preisen für Alltagsprodukte wie Nudeln oder Toilettenpapier und die Erhöhung des Mindestlohns. Wie er sie ohne absolute Mehrheit umsetzen will, während er zugleich Verhandlungen mit Macrons Lager ausschließt, sagt Mélenchon nicht.

    Der Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon. Hat er eine Chance, neuer Premier zu werden?
    Der Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon. Hat er eine Chance, neuer Premier zu werden? Foto: Thomas Padilla, AP/dpa

    Aber zumindest meldet er seinen Anspruch an, den Takt vorzugeben. Dabei ist er nach Ansicht von Forscher Sattelmayer durchaus eine echte Führungspersönlichkeit: „Er war es, der vor 15 Jahren die damalige Linkspartei Parti de Gauche ins Leben rief und gerade für viele junge Leute bleibt er eine wichtige Identifikationsfigur.“ Allerdings habe Mélenchon viel politisches Kapital innerhalb der linken Union verloren. Die Chefs der Sozialisten und der Kommunisten, Olivier Faure und Fabien Roussel, sprechen sich bereits gegen eine wichtige Rolle für ihn aus. Der LFI-Abgeordnete François Ruffin, ein interner Konkurrent für die Präsidentschaftskandidatur 2027, bezeichnet ihn als „Bürde“. „Ein guter Premierminister muss das Land beruhigen, sein Lager vereinen“, sagt die Grünen-Chefin Marine Tondelier. Mélenchon könne das nicht. Tatsächlich hatten viele Links-Wähler gesagt, sie könnten nicht für ein Bündnis mit seiner Beteiligung stimmen.

    Umstritten ist der ehemalige Sozialist, der die Partei 2008 verließ, unter anderem aufgrund seines harschen Umgangs mit Kritikern. Zuletzt schadeten ihm Antisemitismus-Vorwürfe, nachdem LFI sich weigerte, die Anschläge der Hamas auf Israel am 7. Oktober als „terroristisch“ zu bezeichnen. Sattelmayer hält die Vorwürfe für unzutreffend, Mélenchon habe auch für die Opfer der Attacke Mitgefühl geäußert. Aber aus wahltaktischen Gründen blieb der Hauptfokus auf der Verteidigung der Palästinenser. Als linksextrem sei Mélenchon dem Politikwissenschaftler zufolge nicht einzustufen. „Er redet laut und tritt kompromisslos auf, aber er ist weit davon entfernt, Frankreich aus der EU oder der Nato führen zu wollen“, sagt Sattelmayer. Das Programm der Neuen Volksfront ähnele dem des einstigen sozialistischen Präsidenten François Mitterrand bei dessen Amtsantritt 1981. Hinzu komme, dass LFI in den Augen vieler umso radikaler erscheine, je mehr der Diskurs aller Parteien, auch der Sozialisten, nach rechts rücke.

    Doch diese Entwicklung ist nun ausgebremst worden. In Frankreich hat am Sonntag etwas Neues begonnen, mit dem alten Präsidenten an der Spitze. Wie es aussieht, wo es hinführt, das bleibt erst mal im Unklaren. (mit anf)

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