Das Wahlrecht ist eine Dauerbaustelle. Seit Jahren gibt es unter den Parteien politischen Streit darüber, denn Federn lassen möchte am Ende niemand. Eine weitreichende Reform der Ampel-Koalition ist seit Juni dieses Jahres bereits in Kraft - aber erst mal musste das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am Mittwoch über die Vorgängerreform entscheiden. Ein Urteil, das einerseits eindeutig ausfiel, andererseits unterschiedliche Meinungen in der Richterschaft offenlegte.
Warum wurde das Wahlrecht reformiert?
Das Bundeswahlgesetz legte die Sollgröße des Bundestags einst auf 598 Abgeordnete fest. Diese Zahl wurde anfangs noch annähernd eingehalten. Doch von Wahl zu Wahl zogen mehr Abgeordnete ins Reichstagsgebäude ein, 2017 waren es schließlich 709. Verantwortlich für das Anwachsen des Bundestags auf ein XL-Format waren Überhang- und Ausgleichsmandate. Überhangmandate entstanden, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmen-Ergebnis Sitze zustanden. Diese durfte sie behalten, die anderen Parteien erhielten dafür aber Ausgleichsmandate. Alle Parteien plädierten für eine Verkleinerung, fanden dafür aber keinen gemeinsamen Nenner.
Wie sah die Wahlrechtsreform 2020 aus?
Die Wahlrechtsreform der GroKo bestand aus zwei Teilen. Der erste Teil kam schon 2021 zur Anwendung, der zweite Teil sollte erst für die Wahl 2025 gelten. Schon für 2021 wurde festgelegt, dass Überhangmandate einer Partei teilweise mit ihren Listenmandaten in anderen Ländern verrechnet werden sollen. Beim Überschreiten der Regelgröße von 598 Sitzen sollen bis zu drei Überhangmandate nicht durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Nicht angetastet wurde dagegen die Zahl der 299 Wahlkreise. Diese sollten erst im zweiten Schritt ab 2024 auf 280 verringert werden. Außerdem sollte nach der Bundestagswahl 2021 eine Reformkommission zu Fragen des Wahlrechts eingesetzt werden.
Was hat die Reform von 2020 überhaupt gebracht?
Nicht viel. Kritiker bemängelten von Anfang an, dass es sich nur um ein Reförmchen mit geringer Wirkung handele. Der Bundestag wurde nicht kleiner, sondern wuchs mit letzten Wahl auf 736 Abgeordnete an. Letztlich wurde nur der Anstieg gebremst.
Wie wurde die Reform zum Fall für das Bundesverfassungsgericht?
FDP, Grüne und Linke, die bei der Verabschiedung der GroKo-Reform in der Opposition waren, hatten sich auf einen eigenen Gesetzentwurf verständigt, der erheblich mehr Wirkung gehabt hätte. Nach ihm sollte zum Beispiel die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert werden. Sie reichten im Februar 2021 in Karlsruhe eine sogenannte abstrakte Normenkontrolle ein, um die Wahlrechtsreform von Union und SPD auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz zu überprüfen. Die Klage wurde nun als unbegründet abgewiesen.
Was stand besonders stark in der Kritik?
Die Kläger hatten unter anderem angezweifelt, ob die Wählerinnen und Wähler überhaupt noch durchschauen, wie sich ihre Stimme auswirkt. Das Wahlrecht sei zu kompliziert geworden. Das Gericht stellte in seinem Urteil nun aber mehrheitlich fest: In einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl sei ein "gewisses Maß an Komplexität" nicht zu vermeiden. Wählerinnen und Wähler könnten sich über die grundsätzlichen Wirkungen ihres Stimmverhaltens für die Sitzberechnung und die Zuteilung der Mandate verlässlich informieren. Insofern werde den Anforderungen des Demokratieprinzips genügt.
Die Entscheidung des Senats fiel mit fünf zu drei Stimmen jedoch knapp aus. In einem Sondervotum monierten die Senatsvorsitzende Doris König sowie die Richter Ulrich Maidowski und Peter Müller: "Die Entscheidung der Senatsmehrheit erfasst Inhalt und Bedeutung des verfassungsrechtlichen Gebots der Normenklarheit im Wahlrecht nur unzureichend, misst diesem Gebot infolgedessen nicht das ihm zukommende Gewicht zu und mutet den Wahlberechtigten im Ergebnis eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung „im Blindflug“ zu."
Warum war das Urteil zum alten Wahlrecht überhaupt noch relevant?
Wegen der vielen Pannen am Wahltag in Berlin soll die Bundestagswahl nach einem Beschluss des Bundestags in einigen Wahlbezirken der Hauptstadt wiederholt werden. Auch hierzu läuft ein Verfahren in Karlsruhe. Am 19. Dezember will das Bundesverfassungsgericht verkünden, in wie vielen Wahlbezirken dies zu geschehen hat, und ob es reicht, dabei nur die Zweitstimme abzugeben. Die Wiederholungswahl kann nun nach denselben Regeln ablaufen wie die Hauptwahl.
Was hat die neue Reform der Ampel schon geleistet?
Das neue Wahlrecht begrenzt die Zahl der Sitze im Bundestag auf 630. Um das zu erreichen, gibt es keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr. Entscheidend für die Stärke einer Partei im Parlament ist allein ihr Zweitstimmenergebnis. Auch die Grundmandatsklausel fällt weg. Nach ihr zogen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter fünf Prozent lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen. Jede Partei, die in den Bundestag will, muss künftig bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bekommen.
Wie wird nun das aktuelle Wahlrecht der Ampel bewertet?
Die Vertreterin der Kläger, Rechtswissenschaftlerin Professor Sophie Schönberger, sieht in dem Urteil positive Signale. Sie sei sicher, dass die aktuelle Reform, gegen die ebenfalls Klagen in Karlsruhe bereits anhängig sind, vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben wird. Sie sei deutlich klarer, verständlicher und einfacher als ihr Vorgänger.
Ansgar Heveling sagte für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hingegen: Das Gericht habe deutlich gemacht, dass im bewährten System der personalisierten Verhältniswahl verfassungskonforme Maßnahmen möglich seien, um die Größe des Bundestages zu begrenzen. An verschiedenen Stellen habe das Gericht deutlich auf die Stärkung des personalen Elements hingewiesen. Die Ampel-Koalition solle ihr neues Wahlrecht zu überdenken. Denn das stärke nicht das personale Element, sondern schwäche es.
(Von Anika von Greve-Dierfeld, Ulrich Steinkohl, Susanne Kupke, Anne Stein, dpa)