Ob ein Problem in der Europäischen Union als besonders drängend betrachtet wird, lässt sich leicht daran erkennen, wie tief die Europäer in die Taschen zu greifen bereit sind, um es zu lösen. Dass die EU-Kommission Tunesien nun 900 Millionen Euro an Krediten in Aussicht stellte sowie als Zuschuss eine „Sofortmaßnahme“ von 150 Millionen Euro, zeigt dementsprechend den massiven Druck, unter dem die Gemeinschaft steht. Von Tunesien aus versuchen zurzeit die meisten Menschen, auf Booten über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Im Juni etwa kamen 5000 Migranten, im Mai waren es 1000 Menschen.
Nun haben die beiden Seiten ein Abkommen beschlossen, das Geflüchtete von der irregulären Migration in die EU abhalten soll. Im Gegenzug soll das marode Land Geld erhalten. Man wolle „einen wichtigen Meilenstein“ in den Beziehungen zwischen dem Maghreb-Staat und der EU setzen, sagte die Kommissionschefin Ursula von der Leyen in Tunis und bezeichnete Tunesien als Partner, „den wir in der Europäischen Union sehr schätzen“.
Von der Leyen: "Schleppernetzwerken" soll das Handwerk gelegt werden
Von der Leyen kündigte eine stärkere Kooperation gegen „Schleppernetzwerke“ und bei Such- und Rettungsaktionen an. Der tunesische Autokrat Kais Saied zeigte sich „fest entschlossen“, die Absichtserklärung, der die 27 EU-Mitgliedstaaten noch zustimmen müssen, „schnellstmöglich umzusetzen“. Von der Leyen war Teil des selbsternannten „Team Europa“, zu dem auch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und der niederländische Regierungschef Mark Rutte gehörten. Dass von der Leyen ausgerechnet von diesen beiden Spitzenpolitikern begleitet wurde, war kein Zufall.
Rom pochte besonders auf die Vereinbarung, um die von Tunesien ablegenden Boote auf dem Weg nach Süditalien früh zu stoppen – und die seit Monaten steigende Zahl der Migranten zu senken. So erreichten laut Innenministerium in Rom seit Beginn dieses Jahres mehr als 75.000 Menschen Italiens Küsten. Im Vorjahreszeitraum waren es knapp 32.000. Meloni hofft denn auch auf weitere ähnliche Abkommen mit anderen nordafrikanischen Ländern wie Ägypten. Angesichts der kurz vor dem Kollaps stehenden Wirtschaft und zunehmender Spannungen zwischen Migranten und Einheimischen in Tunesien flüchten auch immer mehr Menschen aus dem Maghreb-Staat, die italienische Insel Lampedusa liegt nur etwa 130 Kilometer entfernt. Die Niederlande zählen derweil zu den Ländern, in denen zahlreiche nicht registrierte Flüchtlinge ankommen und wo der Widerstand aus der Gesellschaft größer wird. Ruttes Koalition ist gerade erst am Streit über die Migrationspolitik zerbrochen.
Saied, der Migranten aus Subsahara-Afrika kürzlich als „Horden illegaler Einwanderer“ beschimpft hatte, sprach beim Thema Migration nun von einer „unmenschlichen Situation", die zusammen gelöst werden müsse. Dabei helfen soll das geschnürte Paket, das sich auf fünf Säulen stützt. Dazu gehören Initiativen für erneuerbare Energien, Fachkräftepartnerschaften, Unterstützung für den Austausch von Studierenden, Finanzhilfen für Handelsprojekte – und eben Migration. „Beide Seiten haben ein Interesse daran, das zynische Geschäftsmodell des Menschenschmuggels zu zerschlagen“, hieß es.
Doch gerade Saied wird vorgeworfen, seine Macht mit brutalen Mitteln auszubauen, anstatt an Krisenlösungen zu arbeiten. Jetzt gibt es für diese Anschuldigungen neue Nahrung. Libysche Grenzschutzbeamte haben dutzende Migranten aus der Wüste gerettet, nachdem diese mutmaßlich von Sicherheitskräften in Tunesien an der gemeinsamen Landesgrenze ausgesetzt wurden. Das teilte das libysche Innenministerium am Montag mit.
Schwere Vorwürfe von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat tunesischen Sicherheitskräften vorgeworfen, hunderte Migranten und Asylbewerber kollektiv in Richtung der Grenze ausgewiesen zu haben. Darunter seien Kinder und schwangere Frauen. Sie seien in einer "abgelegenen, militarisierten Pufferzone" mit wenig Essen und ohne medizinische Versorgung zurückgelassen worden. Sicherheitskräfte hätten die Mobiltelefone von fast allen Betroffenen zerstört.
Die CDU-Europaabgeordnete Lena Düpont begrüßte die Absichtserklärung trotzdem. „Es ist richtig, dass wir uns mit aller Kraft auf die Bekämpfung von Schleuserkriminalität in der Zusammenarbeit mit Drittstaaten fokussieren und gleichzeitig Tunesien wirtschaftlich unterstützen“, so Düpont. Deutschland und Europa müssten die illegale Migration deutlich reduzieren, „um weiterhin Schutzbedürftigen Asyl gewähren zu können“. Das Abkommen mit Tunesien werde einen wichtigen Beitrag dazu leisten. (mit dpa)