Der Parteitag der hessischen SPD war gerade ein paar Stunden vorüber, da bestieg Nancy Faeser den Flieger. Ihre Partei hat sie am Wochenende mit großer Mehrheit offiziell zur Spitzenkandidatin für die Landtagswahl am 8. Oktober gekürt. In Hessen drückt die SPD seit fast 25 Jahren die Oppositionsbank; gegenwärtig regiert hier Schwarz-Grün. Eigentlich ist der bevorstehende Wahlkampf bereits ein Programm, das Spitzenpolitiker fordert. Doch Faeser ist zugleich Bundesinnenministerin und in diesem Amt gerade in wichtiger Mission unterwegs. In Tunis will sie an diesem Montag mit der Regierung über Schlepperboote im Mittelmeer, Abschiebungen und legale Wege der Erwerbsmigration sprechen.
"Wir wollen, dass die Menschenrechte von Geflüchteten geschützt werden und das furchtbare Sterben auf dem Mittelmeer aufhört", sagte Faeser kurz vor Abflug. Vor einer Woche war schon EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Tunis. Sie stellte dem unter wirtschaftlichen Problemen leidenden Land nach einem Gespräch mit Präsident Saied Finanzhilfen in Millionen-Höhe in Aussicht.
Tunesische Bürgerrechtler fühlen sich im Stich gelassen
Das Vorhaben stößt auf deutliche Kritik. Bürgerrechtler in Tunesien fühlen sich von Europa im Stich gelassen. Offenbar wolle die EU "ihre Flüchtlingsprobleme nach Tunesien exportieren", sagte die tunesische Menschenrechtlerin Émna Mizouni unserer Redaktion. Die Demokratie bleibe dabei auf der Strecke. Offen ist aber ohnehin, ob Saied das europäische Angebot annehmen wird.
Saied hat in den vergangenen zwei Jahren die Macht in Tunesien an sich gerissen. Er lässt Oppositionspolitiker verfolgen und beschimpft Schwarzafrikaner in Tunesien mit rassistischen Parolen. In dem nordafrikanischen Land mit seinen zwölf Millionen Einwohnern leben tausende Flüchtlinge, die auf die Überfahrt nach Europa hoffen.
Die EU äußert nur sanfte Kritik an Saied: Brüssel will den Präsidenten nicht verärgern, denn etwa jeder zweite Flüchtling, der per Boot in Italien ankommt, ist in Tunesien losgefahren. Seit Jahresbeginn zählten die UN rund 54.000 Bootsflüchtlinge in Italien, mehr als doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum vergangenen Jahres. Die Männer, Frauen und Kinder stammen nach Erhebungen des UN-Flüchtlingshilfswerkes UNHCR vor allem aus der Elfenbeinküste, Guinea, Ägypten und Pakistan. Nach den neuen EU-Asylregeln sollen Italien und andere europäischen Staaten neu angekommene Flüchtlinge in Länder wie Tunesien zurückschicken können.
Tunesien steht vor dem Staatsbankrott
Tunesien braucht dringend Geld, dem Land droht der Staatsbankrott. Saied lehnt bisher aber die Bedingungen ab, die der Internationale Währungsfonds (IWF) an ein Hilfsprogramm für das nordafrikanische Land knüpft. Die EU bietet Saied nun 900 Millionen Euro, wenn er seinen Widerstand gegen den IWF aufgibt. Europa befürchtet, dass ein Wirtschaftskollaps in Tunesien noch mehr Menschen über das Mittelmeer nach Italien treiben würde.
Wie beim Flüchtlingsabkommen mit der Türkei aus dem Jahr 2016 will die EU nun Tunesien, einen weiteren Staat am Rand Europas, zum Torwächter in der Flüchtlingspolitik machen. Die tunesische Bürgerrechtlerin Mizouni sagte über das europäische Angebot an Saied, der angestrebte Deal markiere den "Beginn einer neuen Ära", in der sich Europa vom demokratischen Prozess in Tunesien verabschiede. Auch in der Türkei werfen Regierungskritiker den Europäern vor, die Augen vor demokratischen Missständen zu verschließen, um das Flüchtlingsabkommen nicht zu gefährden.