Marine und Küstenwache in Tunesien werden mithilfe der EU neu ausgerüstet. Sie erhalten moderne Rettungsboote, Wärmebildkameras und andere Instrumente zur Überwachung der tunesischen Gewässer, damit sie mehr Flüchtlingsboote auf dem Weg nach Italien abfangen können. Die EU hat dem autokratischen Präsidenten Kais Saied insgesamt mehr als eine Milliarde Euro versprochen und gab jetzt eine erste Zahlung von knapp 130 Millionen frei. Saied bedankte sich auf seine Weise. Er wies eine EU-Delegation ab, die Tunesien besuchen wollte, und verbreitete nach der Flutkatastrophe im benachbarten Libyen antisemitische Verschwörungstheorien. Deutschland distanziert sich nun vom EU-Deal mit Tunesien.
Tunesien steht im Zentrum der EU-Bemühungen, Flüchtlinge aus Afrika abzuwehren. In Italien sind seit Jahresbeginn nach UN-Angaben fast 130.000 Bootsflüchtlinge angekommen, beinahe doppelt so viele wie im Vergleichszeitraum des vergangenen Jahres; etwa zwei Drittel aller Schutzsuchenden dieses Jahres kamen aus Tunesien.
Die ersten EU-Gelder sind bereits nach Tunesien geflossen
Die EU hatte im Juli mit Saied eine Absichtserklärung unterzeichnet, mit der sie Tunesien dazu bringen will, mehr Boote auf dem Weg nach Europa aufzuhalten. Brüssel versprach dem Land, das vor dem Staatsbankrott steht, mehr als 900 Millionen Euro für die Stabilisierung des Haushalts und weitere 105 Millionen für die Überwachung der Seegrenzen. Jetzt überwies die EU das erste Geld: 60 Millionen Euro für den Haushalt und 67 Millionen für die Migrationspolitik, die auf Marine, Küstenwache sowie Flüchtlingshilfswerke verteilt werden sollen.
Mit dem Deal sende die EU "eine sehr gefährliche Botschaft" an Saied, meint Hussein Baoumi von Amnesty International. Dem Präsidenten werde der Eindruck vermittelt, "dass er alles machen kann, solange er die Flüchtlinge aus Europa raushält", sagte Baoumi unserer Redaktion. Auch andere Autokraten dürften das registrieren. Medienberichten zufolge will die EU eine ähnliche Vereinbarung mit Ägypten treffen. Damit laufe die EU Gefahr, "sich von den Launen autoritärer Politiker abhängig zu machen", sagte Baoumi.
Sein Land werde nicht als "Grenzwächter" für die EU dienen, sagt Tunesiens Präsident Saied
Der tunesische Präsident, der das Parlament und die Justiz unter seine Kontrolle gebracht hat, ließ im Sommer hunderte schwarzafrikanische Flüchtlinge in der Wüste an der Grenze zu Libyen aussetzen. Dutzende sollen verdurstet sein. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft tunesischen Sicherheitskräften vor, Migranten aus Schwarzafrika geschlagen, bestohlen, illegal abgeschoben und in einigen Fällen gefoltert zu haben.
Auch die Aussicht auf die Milliardenhilfen aus der EU brachte Saied nicht dazu, den Europäern entgegenzukommen. Während der Verhandlungen mit Brüssel über den Flüchtlingsdeal erklärte der Präsident, sein Land werde nicht als "Grenzwächter" für Europa dienen. Tunesien werde nur eigene Staatsbürger aus Europa zurücknehmen, nicht aber Bürger schwarzafrikanischer Länder, die über Tunesien in die EU kommen und zurückgeschickt werden sollen, teilte die Regierung in Tunis mit. Trotzdem unterzeichnete eine Delegation unter Leitung von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Druck von Italien den Vertrag mit Tunesien am 16. Juli. Seitdem ist die Zahl der Bootsflüchtlinge in Italien weiter gestiegen.
Kurz bevor die EU das erste Geld überwies, stieß Saied die Europäer wieder vor den Kopf. Seine Regierung verweigerte fünf EU-Parlamentariern die Einreise, offenbar aus Verärgerung über Kritik aus dem Parlament an der Autokratie in Tunesien. Nach dem Sturm "Daniel", der tausende Menschen in Libyen tötete, sagte Saied, die "zionistische Bewegung" habe den hebräischen Namen für das Unwetter in dem muslimischen Land durchgesetzt.
In der EU wächst die Kritik am Tunesien-Deal
Nun wächst in der EU die Kritik an dem Abkommen mit Saied. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock kritisierte laut der Nachrichtenagentur Reuters in einem Brief an EU-Kommissar Oliver Verhelyi, die Prinzipien von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaat seien bei dem Vertrag mit Tunesien nicht genug berücksichtigt worden; das Auswärtige Amt in Berlin wollte sich auf Nachfrage unserer Redaktion nicht zu dem Brief äußern. Das Ministerium hatte im Juli erklärt, Deutschland werde beim Tunesien-Deal auf die Einhaltung der Menschenrechte achten.
Nicht nur Baerbock ist empört. Die EU-Bürgerbeauftragte Emily O’Reilly fragte die Kommission, wie sie die Einhaltung der Menschenrechte im Vertrag mit Tunesien sichern wolle. Auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte Kritik. Menschenrechtler und die Sozialisten im EU-Parlament fordern, die EU solle den Vertrag mit Saied aussetzen.