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Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Hätte die griechische Küstenwache früher eingreifen müssen?

Flüchtlingsdrama im Mittelmeer

Hätte die griechische Küstenwache früher eingreifen müssen?

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    Dieses von der griechischen Küstenwache zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank.
    Dieses von der griechischen Küstenwache zur Verfügung gestellte Bild zeigt zahlreiche Menschen auf dem Deck eines Fischerboots, das später vor Südgriechenland kenterte und sank. Foto: Hellenic Coast Guard, dpa

    Quälende Enge, Hunger und Durst, blutige Messerstechereien – und dann der Untergang. An Bord des Fischkutters, der am vergangenen Mittwoch vor Griechenland sank und hunderte Menschen mit sich in die Tiefe riss, herrschten offenbar furchtbare Zustände. Auch zehn Tage später gibt es noch viele unbeantwortete Fragen zum Hergang des Unglücks – und massive Vorwürfe zur Rolle der griechischen Küstenwache. Kenterte der Kutter bei einem missglückten Schleppversuch?

    Die Staatsanwaltschaft in der griechischen Hafenstadt Kalamata hat diese Woche mit den Vernehmungen von neun Überlebenden des Bootsunglücks begonnen. Bei den Männern, die aus Ägypten stammen, soll es sich um Besatzungsmitglieder handeln. Andere Gerettete identifizierten sie als Komplizen der Schleuser. Bisher wurden 82 Ertrunkene geborgen. 104 Männer konnten von der griechischen Küstenwache und vorbeifahrenden Handelsschiffen unmittelbar nach der Havarie lebend gerettet werden. Die tatsächliche Zahl der Opfer geht jedoch in die Hunderte. Wie viele Menschen sich an Bord des Fischkutters befanden, der von Tobruk in Libyen auf dem Weg nach Italien war, ist unklar. Die Angaben schwanken zwischen 400 und 800. Es könnten also bis zu 700 Menschen ertrunken sein. Die Migranten stammten überwiegend aus Syrien, Pakistan und den Palästinensergebieten. 

    Flüchtlingsboot sinkt vor Griechenland: Was in den Stunden vor der Havarie geschah

    Der altersschwache rund 30 Meter lange Fischkutter war in der Nacht zum 14. Juni vor der Südwestküste der griechischen Halbinsel Peloponnes gekentert und binnen weniger Minuten gesunken. Was in den Stunden vor der Havarie geschah und wie es zu dem Untergang kam, ist aber zunehmend unklar. Sprecher der griechischen Küstenwache und Überlebende machen widersprüchliche Aussagen zum Hergang. Nach einem Bericht des Internetportals CNN.gr sprachen mindestens acht Gerettete davon, ein anderes Schiff habe versucht, den Kutter in Schlepp zu nehmen – unklar ist, ob es sich dabei um ein Handelsschiff oder ein Schiff der Küstenwache handelte. Bei dem Schleppversuch sei der Kutter gekentert. 

    Der Sprecher der Küstenwache, Nikos Alexiou, dementiert energisch, dass es einen Abschleppversuch gegeben habe. Man habe zwar von einem Patrouillenboot der Küstenwache ein Tau zu dem Kutter hinübergeworfen. Von dort habe es aber Rufe gegeben „No help, go Italy“. Nach fünf Minuten hätten Personen auf dem Kutter das Tau wieder gelöst und ins Meer geworfen. Das sei am 13. Juni gegen 23.57 Uhr gewesen. Der Sprecher der Küstenwache erklärte, es wäre viel zu gefährlich gewesen, das Schiff ohne Einwilligung und Mithilfe der Besatzung ins Schlepp zu nehmen oder hunderte Menschen gegen ihren Willen aus dem überfüllten Schiff zu holen. Nach Darstellung der Küstenwache bekam der Kutter um 1.47 Uhr ohne Fremdeinwirkung plötzlich Schlagseite. Von Bord seien Schreie, Tumulte und Hilferufe zu hören gewesen. Wenige Minuten später sank das Boot.

    Vorwürfe gegen die griechische Küstenwache

    "Die griechische Küstenwache war vor Ort und hätte daher eigenständig Rettungsmaßnahmen ergreifen müssen", sagt Nora Markard im Interview mit dem Spiegel. "Übrigens hätte die Küstenwache das Schiff auch betreten können, wenn die Situation nicht eindeutig als Seenotlage eingestuft worden wäre, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Denn das Schiff fuhr ohne Flagge, und das heißt, die Küstenwache hätte es stoppen und inspizieren können. Dass sie nichts tun konnten, ist einfach gelogen." Selbst wenn es die Passagiere abgelehnt hätten, hätte es eine Rettungspflicht gegeben. 

    Die Passagiere sollen pro Kopf für die versprochene Überfahrt zwischen 4000 und 6500 Dollar bezahlt haben. Überlebende berichteten, sie hätten sich von Anfang an große Sorge gemacht. Auf dem Boot seien die Menschen regelrecht zusammenpfercht gewesen. Frauen und Kinder sowie viele Männer aus Pakistan habe die Besatzung unter Deck in den Laderäumen eingeschlossen. Schon bei der Abfahrt in Tobruk sei der überladene Kutter in Schlangenlinien gefahren und habe sich immer wieder von einer Seite zur anderen geneigt, sagten Überlebende.

    Immer wieder Vorwürfe wegen angeblicher "Pushbacks"

    Die Schleuser hätten versprochen, man werde in zwei Tagen Italien erreichen, berichten Überlebende. Stattdessen wurde es eine Höllenfahrt. Immer wieder habe die Maschine ausgesetzt. Am fünften Tag hatte der Kutter erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. An Bord habe es kein Trinkwasser und keine Lebensmittel mehr gegeben, mehrere Menschen seien bereits bewusstlos gewesen, berichten Überlebende. 

    Unterdessen dürfte das Drama nur wenig Auswirkungen auf den laufenden Wahlkampf in Griechenland haben. Der Gewinner der Parlamentswahl am Sonntag heißt aller Voraussicht nach Kyriakos Mitsotakis. Der verteidigte bei seinen letzten Kundgebungen seine Migrationspolitik als „strikt, aber fair“. In den vergangenen vier Jahren hat Griechenland große Abschnitte der Landgrenze zur Türkei mit kilometerlangen Sperrzäunen gesichert. In der Ägäis verstärkte die Regierung die Patrouillen, um Migrantenboote aus den griechischen Hoheitsgewässern fernzuhalten. Griechenland ist allerdings seit Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert, dass seine Küstenwache und Grenzpolizei sogenannte „Pushbacks“ praktizieren, völkerrechtswidriges Zurückdrängen von Migranten.

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