Samuel Multner versteht nicht, warum die Geflüchteten „alle in einen Block eingesperrt werden sollen“, wie er es ausdrückt. Genauer gesagt: in seinen Block. Multner lebt seit fünf Monaten mit seiner schwer kranken Mutter in einer Sozialwohnung in der Lörracher Wölblinstraße. Doch die Mieter der Häuser 21 bis 29 haben kürzlich Post von der städtischen Wohnbaugesellschaft bekommen: Sie sollen ihre Wohnungen verlassen, weil die Stadt Geflüchtete in den Liegenschaften unterbringen möchte. Den jetzigen Mietern soll dann „alternativer, geeigneter Wohnraum“ angeboten werden, heißt es in dem Brief.
Unterbringung von Geflüchteten wird für Kommunen zu immer größerer Herausforderung
Seither herrscht Aufregung – vor Ort, aber auch bei vielen, die das Geschehen nur aus der Ferne beobachten, in sozialen Netzwerken und bei Landes- und Bundespolitikern. Müssen deutsche Mieter Flüchtlingen weichen, weil die Kommunen mit der Unterbringung heillos überfordert sind? Der Fall wurde längst zum Politikum, denn er steht symbolisch für ein Problem, mit dem gerade viele Städte in Deutschland kämpfen.
„Ich war ehrlich gesagt auf 180“, sagt Samuel Multner. „Ich verstehe nicht, warum nicht die Flüchtlinge in die anderen Wohnungen kommen, die könnten direkt rein in die Gesellschaft und arbeiten.“ Bisher leben in den Wohnungen noch etwa 40 Menschen, die Stadt will hier 100 Geflüchtete unterbringen. Die jetzigen Bewohner sollen dann wohl in zwei anderen Quartieren der Wohngesellschaft untergebracht werden – die befinden sich allerdings noch im Bau. Laut Thomas Nostadt, Geschäftsführer der Städtischen Wohnbaugesellschaft Lörrach, sollen zwar beide bis Jahresende fertiggestellt werden, ursprünglich war das aber schon für Ende 2022 geplant.
Lörrach: Viele Bewohner der Wölblinstraße beziehen Sozialhilfe
In der Wölblinstraße leben die, die vom Leben ohnehin nicht mit Glück überhäuft wurden: viele alte und kranke Menschen, sie empfangen Sozialhilfe, einige waren vorher obdachlos. Das Haus selbst hat schon bessere Zeiten erlebt. Errichtet in den 50er Jahren, sollte es in den kommenden Jahren abgerissen werden. Hans-Peter Flöscher steht rauchend vor der Hausnummer 21, er sagt: „Ich dachte, wenn ich hier ausziehe, dann in einer Holzkiste.“ Flöscher lacht, er meint einen Sarg. Er wurde vor einigen Jahren schon mal umgesiedelt, weil sein früheres Wohnhaus saniert wurde. Erst hatte es geheißen, die Mieter dürften danach wieder rein. Daraus wurde aber nichts.
Den Bürgermeister von Lörrach, Jörg Lutz, sowie Thomas Nostadt haben inzwischen hunderte Hassmails erreicht, Mitarbeiter werden bedroht und beschimpft. An ihrem Vorhaben wollen sie dennoch festhalten. „Wir haben das mehrfach so gemacht“, sagte der Chef des Rathauses. „Es waren alle zufrieden. Die Gesellschaft ist eine andere geworden.“
Da den Mietern Angebote unterbreitet werden sollen, erwarte er, dass förmliche Kündigungen für die Wohnungen aus den 1950er Jahren gar nicht nötig seien. Es war geplant gewesen, die Wohnungen wegen ihres Zustands in den kommenden Jahren abzureißen und neu zu bauen. Von dem städtischen Wohnbauunternehmen sollen Mieterinnen und Mietern modernere und bezahlbare Wohnraumangebote unterbreitet werden. „Die erste Wohnung ist schon gefunden", sagte Wohnbau-Chef Nostadt.
Krieg in der Ukraine: Zahl der Flüchtlinge in Deutschland steigt
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine Ende Februar letzten Jahres sind mehr als eine Million Menschen aus dem Kriegsgebiet nach Deutschland gekommen. Darüber hinaus beantragten im vergangenen Jahr 217.774 Menschen aus Syrien, Afghanistan, der Türkei und anderen Staaten erstmals Asyl – so viele wie seit 2016 nicht. In Bayern haben im Jahr 2022 rund 29.000 Flüchtlinge einen Asyl-Erstantrag in Bayern gestellt, hinzu kamen rund 150.000 Ukrainerinnen und Ukrainer. In Baden-Württemberg stellten 25.000 Flüchtlinge einen Asyl-Erstantrag, hinzu kamen ebenfalls 150.000 Ukrainerinnen und Ukrainer. Flüchtlinge werden in den ersten Monaten in einer Landeserstaufnahmestelle untergebracht, erst danach müssen sich die Kommunen um eine Anschlussunterbringung bemühen.
In der Politik wächst deshalb die Anspannung – und der Druck auf die Bundesregierung, den Zustrom von Flüchtlingen stärker zu begrenzen. „Die regierende Politik hat jedes Maß im Umgang mit den eigenen Bürgern verloren“, sagt die AfD-Chefin Alice Weidel. Eine Flüchtlingspolitik, die nicht steuere, sei „leider gesellschaftlicher Sprengstoff“, sagt CDU-Innenexperte Philipp Amthor.
„Wenn der Bund die irreguläre Migration nicht verringern will oder kann und die Zahl der ausreisepflichtigen Migranten nicht verringern will oder kann, dann muss er damit klarkommen, dass überforderte Kommunen Notunterkünfte errichten“, sagt Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer. Der Kommunal-Politiker, dessen Mitgliedschaft bei den Grünen aktuell ruht, hatte erst am Wochenende gemeinsam mit Kollegen versucht, die grüne Parteispitze zu einem Umsteuern zu bewegen. Es gebe immer noch „kein Konzept für eine gelungene Integration oder die konsequente Rückführung von Geflüchteten in ihre Heimat, sobald sich dies verantworten lässt oder sie selbst es wollen“, heißt es in dem Manifest. Es werde kaum zwischen Kriegs-, Asyl- und Wirtschaftsmigranten unterschieden. Auch das Ziel, den Bau von Unterkünften zu beschleunigen, war beim jüngsten Flüchtlingsgipfel mit Innenministerin Nancy Faeser gescheitert. Lörrach ist nicht die einzige Kommune, die deshalb an ihre Grenzen gerät.
Kommunen haben in den vergangenen Jahren bestehende Flüchtlingsunterkünfte geschlossen
Allerdings sieht unter anderem der Flüchtlingsrat Baden-Württemberg durchaus auch bei den Städten und Gemeinden eine Mitschuld an den aktuellen Problemen. Die haben nämlich im großen Stil Unterkünfte geschlossen, als die Flüchtlingskrise 2015/16 bewältigt schien. Das falle den Kommunen jetzt auf die Füße, sagte eine Sprecherin am Mittwoch.
Für die Bewohner der Wölblinstraße bleibt derweil vieles unklar. So ein Umzug müsse schließlich lange geplant werden, sagt Murat Özbagatur. „Meine Mutter, die auch hier im Haus wohnt, ist auf das fußläufige Arztangebot im Umkreis angewiesen.“ Eines der Ausweichquartiere liegt aber am nördlichen Rand der Stadt. Er selbst habe sich für viel Geld eine Küche in seine Wohnung bauen lassen, die woanders wahrscheinlich nicht reinpasst. „Was soll ich dann damit machen?“ Die Wohnbaugesellschaft selbst verspricht, die Mieter zu unterstützen, es soll eine Umzugspauschale geben von 1500 bis 2000 Euro – bei Härtefällen auch mehr. In den neuen Wohnungen müsse zwar mit höheren Mieten gerechnet werden, doch die sollten die Höchstsätze von Grundsicherungsbeziehern nicht übersteigen.
Warum die Flüchtlinge nicht einfach in die neuen Häuser einquartiert werden, wird Thomas Nostadt gefragt. Seine Antwort: Es wäre schwer vermittelbar, wenn Geflüchtete in Neubauwohnungen mit hohem Komfort einziehen würden.