Es ist nur eine kurze Frage, aber sie trägt die ganze Misere der Ampel-Regierung in sich. „Ist Deutschland aus italienischer Sicht noch ein verlässlicher Partner“? Gestellt wird sie der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni zum Abschluss ihres Berlin-Besuchs – neben ihr steht Bundeskanzler Olaf Scholz. Als der Regierungschef des mächtigsten Landes der Europäischen Union die Frage hört, rollt er mit den Augen, als habe jemand danach gefragt, ob Friedrich Merz vielleicht doch der bessere Kanzler wäre.
Ausgerechnet Italien, der aus deutscher Sicht ewige Schuldensünder. Ausgerechnet Meloni, die an der Spitze einer postfaschistischen Partei steht. Scholz macht nicht sein schlauestes Gesicht, kann aber aufatmen. Die Ministerpräsidentin führt ihn nicht vor, sie sagt brav: „Also was mich betrifft, so glaube ich, dass Kanzler Scholz sehr zuverlässig ist. Deutschland ist für mich ein zuverlässiger Partner.“ Das Problem ist bloß, dass viele Deutsche das gerade nicht so sehen.
Kanzler Olaf Scholz schimpft auf CDU-Chef Friedrich Merz
Nach dem Karlsruher Urteil zum zweiten Nachtragshaushalt 2021, das ein 60-Milliarden-Euro-Loch in die Staatskasse gerissen hat, steckt das Land in einer schweren Regierungskrise, womöglich der schwersten überhaupt. Das Geld fehlt an allen Ecken und Kanten. Und der Kanzler weiß nicht, wo er es herbekommen soll. Die juristischen Hausaufgaben der Verfassungsrichter sind höllisch kompliziert. Sie gebieten gleichzeitig das Eingeständnis einer Niederlage, große Sorgfalt, Einbeziehung der Opposition – und einen fertigen neuen Haushalt bis Ende des Jahres. Wer kann das zusammenbinden?
Scholz war noch nie ein großer Kommunikator. Blut, Schweiß und Tränen-Ansprachen an die Nation liegen ihm nicht. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat er mit seiner Zeitenwende-Rede überrascht, doch er zieht es bislang vor, stumm zu bleiben. Im Kanzleramt wird fieberhaft nach Auswegen aus der Krise gesucht, der Kanzler schaltet sich derweil nach seinem Treffen mit Meloni zur Sondersitzung seiner SPD-Fraktion zu.
Sie dauert etwa 45 Minuten, rund die Hälfte davon redet der Kanzler, wie Teilnehmer später erzählen. Scholz schimpft auf CDU-Chef Friedrich Merz. Dessen Aufforderungen zur Streichung von Bürgergeld und Kindergrundsicherung seien dummes Zeug, der Oppositionsführer operiere mit völlig falschen Zahlen. Den Notausgang kann Scholz bei dieser Sitzung allerdings nicht aufzeigen. Er entlässt die Abgeordneten mit dem Versprechen, dass man an einer konkreten Lösung arbeite. Wie die aussehen könnte? Keine Antwort.
Robert Habeck und Christian Lindner können ihre Talente nicht abrufen
Für die Befreiung aus dem Sumpf braucht der Kanzler zwei Männer. Ohne Wirtschaftsminister Robert Habeck und Finanzminister Christian Lindner geht es nicht. Der Grüne und der Liberale verfügen über eine Gabe, die Scholz nicht hat. Habeck überzeugt als einfühlsamer Erklärer der Weltzusammenhänge, Linder glänzt mit geschliffener Rhetorik. Beide sind starke Redner. Normalerweise. Doch ausgerechnet jetzt können sie ihr Talent nicht so richtig abrufen.
Habeck wirkt beleidigt, wirft Merz vor, schuld an der Not der Regierung zu sein. In der Talkshow von Markus Lanz macht er dann auch noch einen Witz auf Kosten des Kanzlers, spielt auf dessen Erinnerungslücken im Falle des Steuerbetrugs bei Aktiengeschäften (Cum Ex) an. Habeck wirkt frustriert. Seine eigentliche Stärke, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein und seine Emotionen nicht zu verstecken, verkehrt sich in solchen Augenblicken in eine Schwäche.
Das ganze Streben des Vorzeige-Grünen ist infrage gestellt. Er hatte mit dem Volk und der Wirtschaft den Deal geschlossen, sie mit Geld zu beglücken, damit sie das Klima schützen. Die neue Heizung bezahlt zur Hälfte der Staat, den neuen Hochofen im Stahlwerk auch. Das Ganze sollte zu einem ordentlichen Anteil über Schulden finanziert werden – was nun nicht mehr geht. Das Verfassungsgericht hat den Vertrag zerrissen. Habeck selbst bleibt wie Scholz vorerst nur, Durchhalteparolen auszugeben. „Wir müssen das nach wie vor möglich machen“, sagt er bei Lanz und hat dabei schon im Hinterkopf, dass er einen Parteitag vor sich hat, wo er ähnliche Sätze sagen muss. Phrasen, die bei Mitgliedern wie Wahlvolk den Eindruck verstärken, dass die Regierung keinen Plan hat.
Finanzminister Christian Lindner sagt es mit Stresemann
Wie Habeck steht auch Lindner vor den Scherben seiner Politik. Der FDP-Vorsitzende hatte den Wählern zwei Versprechen gegeben: Rückkehr zur Sparsamkeit bei den Staatsfinanzen und keine Steuererhöhungen. Beide Versprechen sind – Stand heute – wohl nicht zu halten. Lindners Ratlosigkeit zeigt sich bei einer Diskussion mit der Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde. Das Thema ist die Inflation. Vor dem Publikum im voll besetzten Saal des Bundesfinanzministeriums spricht er gelassen, referiert über Gustav Stresemann – vor 100 Jahren kurzzeitig Reichskanzler und langjähriger Außenminister Deutschlands. Das Wort Schuldenbremse streift er nur ein einziges Mal.
Stresemann besiegte damals die Inflation, die in der Weimarer Republik so grässlich gewütet hatte und das Vertrauen in die Demokratie unterhöhlte. Lindner schließt die Diskussion mit einem Zitat Stresemanns, das besagt, nur der Geist, der unverrückt an ein fernes schönes Ziel glaube, habe die Lebenskraft, sich zu erhalten und über den Alltag hinwegzuführen. Er fordert das Publikum auf: „Lassen Sie uns wie Stresemann sein, bleiben wir auch unaufhörlich optimistisch.“
Am Donnerstagnachmittag sieht es zunächst so aus, als ob zumindest der Finanzminister nun einen Plan habe. Lindner lädt zur Pressekonferenz, die Spannung ist groß. Wird jetzt der große Wurf verkündet? Nach gut zwei Minuten Statement ist klar: Es ist nicht einmal ein Würfchen. „Ich betrachte es als meine Aufgabe, jetzt reinen Tisch zu machen“, sagt der FDP-Chef und kündigt an, in der nächsten Woche einen Nachtragshaushalt für 2023 vorlegen zu wollen. Das Wort Schuldenbremse vermeidet er tunlichst, aber dass sie noch einmal ausgesetzt werden muss, daran hat in Berlin niemand mehr einen Zweifel. Es gebe eine neue Rechtsklarheit, erläutert Lindner sachlich. „Wir ziehen jetzt daraus die Konsequenzen“. Danach zieht er verlegen lächelnd ab, Nachfragen der Journalisten werden nicht zugelassen.
Der Finanzminister ist Urheber seiner eigenen Not
Linders Auftritt liefert weitere Munition für die CDU. Die ätzt ohnehin schon, dass die Geschichte vom eisernen Christian ein bloßes Märchen sei. Bitter auch die Ironie, wie die neue Notlage begründet wird. Seine Buchungstricks führten zum Urteil des Verfassungsgerichts, das wiederum zum Ausnahmezustand in der Staatskasse führt. Lindner ist der Urheber seiner eigenen Not. Und es ist nicht so, dass er nicht hätte gewarnt sein können.
Bereits im August schickte der Bundesrechnungshof einen Sonderbericht an das Bundesfinanzministerium. Thema: „Die Sondervermögen des Bundes und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Haushaltstransparenz sowie die Funktionsfähigkeit der Schuldenregel“. Erschreckend ist, dass die Experten das Karlsruher Urteil in großen Teilen bereits vorwegnahmen, sich in der Bundesregierung aber offenbar niemand wirklich für die Expertise interessierte. „Sondervermögen gefährden das parlamentarische Budgetrecht und die Wirksamkeit der Schuldenregel“, schrieben die Rechnungsprüfer Lindner ins Lastenheft, und listeten auch gleich die gewaltige Dimension auf: 869 Milliarden Euro haben die Ampel und andere Regierungen vor ihr in Sondervermögen geparkt.
Die Union ist an der Lage also nicht unschuldig, stellt sich gerade aber stur. Es wäre möglich gewesen, die fähigsten Finanzleute von CDU und CSU mit denen von SPD, FDP und Grünen an einen Tisch zu setzen und die Tür erst wieder zu öffnen, wenn ein tragfähiger Vorschlag auf dem Tisch gelegen hätte. Stattdessen verweigerte die Unions-Fraktion im Haushaltsausschuss ihre Mitarbeit und spielte beleidigte Leberwurst. Man habe ja das Karlsruher Urteil erst einmal auswerten müssen, verteidigen sich Unionsleute und haben damit durchaus einen Punkt. Doch eine Woche nach dem großen Knall hat sich die Haltung der größten Oppositionspartei nicht verändert. Sie wartet ab, und alle fragen sich, worauf sie wartet.
Lässt die FDP die Ampel platzen?
Scholz möge doch FDP und Grüne aus der Regierung schmeißen, heißt es. Es wird über eine Juniorpartnerschaft mit der SPD und vorgezogene Neuwahlen fantasiert. Vom Tisch ist das alles nicht, mit großer Spannung blicken sie in der Union auf die bevorstehenden Mitgliederbefragung der FDP. Im schwarzen Lager wird über ein 60-Prozent-Votum für einen Austritt der Liberalen aus der Ampel spekuliert. Selbst wenn das Ergebnis der Befragung nicht bindend sei, könne Lindner kaum daran vorbei. Doch andererseits wissen die Taktiker bei CDU und CSU, dass das alles viel zu lange dauert. Sofortiges Handeln ist gefragt, und da hat die Union Angst vor ihrer eigenen Courage.
Einerseits fehlt es gerade an Köpfen. Für bestimmte Positionen in einer unionsgeführten Regierung gebe es gar kein Personal, beklagt ein erfahrener CDU-Abgeordneter. Natürlich ließe sich das Kabinett des Friedrich Merz irgendwie füllen. Aber ein kleiner Test unter Abgeordneten zeigt das Dilemma. Auf die Frage, wer es denn als Finanzminister oder Finanzministerin besser machen würde als Christian Lindner, hat niemand eine Antwort. Vor allem hat sich ein Satz des CDU-Granden Wolfgang Schäuble in viele Köpfe regelrecht eingebrannt. Das Karlsruher Urteil werde auch die Arbeit künftiger unionsgeführter Regierungen auf Jahre bestimmen, sagte der ehemalige Finanzminister nach Teilnehmerangaben auf einer Fraktionssondersitzung.
Wie es nun weitergeht? Niemand weiß es. Lindner will kommende Woche seinen Nachtragshaushalt im Kabinett einbringen, damit wären dann bestenfalls die Modalitäten für dieses Jahr geregelt. Wie der Etat 2024 aussieht, ist weiterhin ebenso offen, wie es die Tagesordnung für die kommende Sitzungswoche ist. Wird es eine Bereinigungssitzung geben, was ist mit der Schuldenbremse im kommenden Jahr? Denkbar ist, dass die Abgeordneten in der Woche vor Weihnachten – sie wäre eigentlich sitzungsfrei – noch mal ranmüssen. Wenn nicht, werden Weihnachten und der Jahreswechsel für die Ampel vieles sein. Fröhlich aber jedenfalls nicht.