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FDP-Parteitag: Lindner übertrumpft seinen Mentor – und kämpft ums politische Überleben der FDP

FDP-Parteitag

Lindner übertrumpft seinen Mentor – und kämpft ums politische Überleben der FDP

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    FDP-Chef Christian Lindner überholt in dieser Woche Hans-Dietrich Genscher.
    FDP-Chef Christian Lindner überholt in dieser Woche Hans-Dietrich Genscher. Foto: Hannes P Albert

    Hans-Dietrich Genscher ist sich sicher. Die neue FDP, prophezeit ihr Ehrenvorsitzender im Frühjahr 2012, werde eine ganz andere Partei sein als unter ihm oder unter Guido Westerwelle. "Sie ist keine Ein-Mann-Show und sie ist keine Ein-Themen-Partei." Und den Mann, der sie in eine andere Liga heben würde, hat Genscher auch schon ausgemacht: Christian Lindner, damals noch Generalsekretär unter dem glücklosen Philipp Rösler, könne das: "Alte Wähler gewinnen neues Vertrauen, und neue Wähler werden angesprochen." Sogar ein gemeinsames Buch gibt der frühere Außenminister mit ihm heraus – ein gedruckter Ritterschlag. 

    Am kommenden Donnerstag wird Lindner länger Parteichef sein, als die Parteiikone Genscher es war, exakt 3800 Tage sind dann seit seiner Wahl im Dezember 2013 vergangen. Mehr zu feiern aber hat die Partei im Moment auch nicht. Die Umfragewerte? Mal knapp unter, mal knapp über der kritischen Marke von fünf Prozent, und damit weit weg von den 11,5 Prozent der letzten Bundestagswahl. Die Stimmung an der Basis? Abwartend bis angespannt. Die Ampelkoalition? Verglichen mit ihr, würde der Sozialdemokrat Franz Müntefering an dieser Stelle sagen, der Meister des klaren Satzes, ist ein Hühnerhaufen eine geordnete Formation. Auch an der FDP-Basis sitzt der Frust darüber tief. 

    Christian Lindners Schlagwort: In Berlin plakatiert die CDU jetzt "Freiheit"

    Christian Lindner weiß das natürlich – und erzählt den mehr als 600 Delegierten des Parteitages in Berlin daher die Geschichte des neuen Tisches, den seine Frau und er gekauft haben. Dessen Lieferant hatte dem Möbel im Dezember einen zweiseitigen Brief an den FDP-Vorsitzenden beigelegt, indem er sich zunächst als Stammwähler der Liberalen outete, dann aber die provokante Frage stellte, wann die FDP sich denn wieder für die Freiheit und den Respekt vor Leistung und Eigentum einsetzen würde. Dass sie dies jeden Tag tut, wie Lindner beteuert, ist offenbar nicht nur im täglichen Ampelchaos etwas untergegangen und keineswegs nur ein Wahrnehmungsproblem. In der Straße vor der Parteizentrale in Berlin plakatiert inzwischen die CDU das Credo "Freiheit", als wäre Friedrich Merz der bessere Liberale. 

    Anders als in den Nach-Genscher-Jahren, als die FDP ihren Verdruss über verkorkste Landtagswahlen oder desaströse Umfrageergebnisse gerne an ihren Vorsitzenden ausließ, sitzt Lindner allerdings ähnlich fest im Sattel wie einst sein Mentor Genscher: Minutenlang applaudieren die Delegierten in Berlin ihm im Stehen für eine Rede, die auch seinen Möbelhändler überzeugt hätte, so gespickt ist sie mit Absagen an neue Steuern und Schulden, mit liberaler Reformrhetorik und der Sorge um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit, die Lindner jetzt mit einer "Wirtschaftswende" wieder verbessern will. Im weltweiten Standortvergleich, rechnet er vor, sei die Bundesrepublik seit dem Jahr 2014 von Rang sechs auf Platz 22 zurückgefallen. Was also, fragt er rhetorisch, "ist dann dringlicher als eine Wende."

    Im Vorfeld des Parteitages haben die FDP-Oberen einiges getan, um Druck aus dem Kessel zu nehmen, weil viele Mitglieder ja ähnliche Zweifel an der Ampel und der Rolle der FDP haben wie Lindners Mann mit dem Tisch. Fraktionschef Christian Dürr etwa hat im Gespräch mit unserer Redaktion eine härtere Gangart in der Asylpolitik angekündigt, Lindner selbst angedeutet, den Kinder- und den Grundfreibetrag bei der Einkommenssteuer anzuheben – und der Parteivorstand ein Papier mit zwölf Reformvorschlägen beschlossen, das seit einer Woche für Unruhe im politischen Berlin sorgt, weil die FDP darin von Steuersenkungen über eine Reform des Bürgergeldes bis zum Abschaffen der Rente mit 63 so ziemlich alles aufgelistet hat, was sie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik gerne ändern würde, von dem Stand heute aber praktisch nichts mit Sozialdemokraten und Grünen zu machen ist. Generalsekretär Bijan Djir-Sarai nennt die Vorschläge eine "Liebeserklärung an unser Land." CSU-Chef Markus Söder nennt sie eine "Scheidungsurkunde für die Ampel." 

    Hinkt der Vergleich mit dem Wende-Papier von 1982?

    Der Vergleich mag hinken wie jeder Vergleich, aber zumindest die Älteren in der Halle erinnern sich noch an das berühmte Lambsdorff-Papier aus dem Jahr 1982, mit dem die FDP in einer ökonomisch ähnlich brenzligen Situation ebenfalls eine Art Wirtschaftswende erzwingen wollte, die sozialliberale Koalition von Helmut Schmidt damit zu Fall brachte und buchstäblich über Nacht an die Seite von Helmut Kohl und der CDU wechselte. Diesmal ist zwar von Koalitionsbruch keine Rede, sofern man die Warnung von Parteivize Wolfgang Kubicki nicht überbewertet, wenn die Grünen sich Reformen weiter verweigerten, "wird es keine Zukunft für diese Koalition geben." In seiner Rede aber zieht Lindner zumindest eine rote Linie, die die Ampel aus seiner Sicht nicht überschreiten darf. 

    Die geplante Grundsicherung für Kinder will die FDP nur mittragen, wenn die grüne Familienministerin Lisa Paus ihren Gesetzentwurf radikal überarbeitet. 5000 neue Stellen im Staatsdienst zu schaffen, um zwei Milliarden Euro zu verteilen, sei absurd, warnt der FDP-Chef. Kinderarmut, soll das heißen, lasse sich auch anders bekämpfen. Etwa so: "Wäre es nicht besser, diese Milliarden einzusetzen in mehr und qualitätsvolle Kinderbetreuung, damit niemand gegen den eigenen Willen in Teilzeit verbleibt, weil man weiß, die Kinder sind gut untergebracht?" Und wenn die Grünen sich solchen Realitäten weiter verweigerten, verlangt ein Redner in der anschließenden Aussprache, "dann eben raus aus der Ampel." 

    Solche Stimmen allerdings sind die Ausnahme an diesem Wochenende und nicht die Regel. Beifall gibt es dafür kaum. Vorgezogene Neuwahlen, da sind sich die meisten Liberalen einig, wären für die tief gefallene Partei eher ein Risiko als eine Chance. Lindner geht mit seinen Koalitionspartnern deshalb unerwartet pfleglich um und trifft den Nerv der Partei, indem er sich eine gute Stunde lang fast ausnahmslos mit den wirtschaftlichen Herausforderungen beschäftigt, vor denen Deutschland steht. Ein Mann, ein Thema: Irgendwie ist die neue FDP, von der Genscher einst schwärmte, plötzlich doch wieder die alte.

    In der vergangenen Woche erst war Lindner zur Frühjahrstagung des internationalen Währungsfonds in Washington – und in einer für einen deutschen Finanzminister undankbaren Position. Unter den westlichen Industrienationen hat die Bundesrepublik das schwächste Wachstum. "Nur ein Kater" sei das, beschwichtigte Lindner seine Kollegen, weil er sein eigenes Land auch nicht schlechter reden will, als es ist, schon gar nicht im Ausland. Als dann allerdings ein Referent in Washington vor den Vertretern von 190 Ländern als Synonym für die Schwächen der Weltwirtschaft ein Bild mit einer Straßenszene aus Europa an die Wand warf, stupfte ihn sein Nachbar an, der französische Notenbankgouverneur Francois Villeroy: "Christian, das ist doch Berlin." 

    Lindner hält die Lage für schwieriger als der Kanzler

    Die deutsche Hauptstadt als Synonym des Niedergangs? Lindner verrät nicht, was er Villeroy geantwortet hat, als gesichert aber gilt, dass er die wirtschaftliche Lage des Landes für deutlich brisanter hält als der Kanzler. Er spricht von einer stagnierenden Gesellschaft, von zu hohen Steuern und zu wenig Arbeitsstunden, die ein deutscher Arbeitnehmer etwa im Vergleich zu einem Kollegen in der Schweiz leiste. Gleichzeitig allerdings sind seine Möglichkeiten begrenzt, die FDP ist der kleinste Koalitionspartner in der Ampel und als einziger nicht links der Mitte zu Hause – und die Bereitschaft von Sozialdemokraten und Grünen, mit ihr zu kooperieren, schwindet mit jedem Tag, den die nächste Bundestagswahl näher rückt. Andererseits: Hat er nicht bewiesen, dass er eine Partei durch schwierige Zeiten führen kann? Als er 2013 FDP-Vorsitzender wurde, waren die Liberalen gerade aus dem Bundestag geflogen. Lindner aber gelang es in einem Kraftakt, die Aufmerksamkeit für die FDP in der außerparlamentarischen Opposition vier Jahre lang so hochzuhalten, dass sie es zurück in den Bundestag schaffte. Weitere vier Jahre später saß sie wieder dort, wo sie nach ihrem Selbstverständnis auch hingehört: in einer Bundesregierung. 

    Damals verglich er seine Arbeit als neuer Parteichef mit dem Besteigen des Mount Everest "barfuß und ohne Sauerstoff." Inzwischen ist der 45-Jährige längst oben angekommen, wo sich der Blick auf die Welt weitet, die Luft aber auch mit jedem Höhenmeter dünner wird – ein Reinhold Messner der Freidemokratie, wenn man so will. Den Parteitag rockt er an diesem Wochenende, wie der Korrespondent einer Nachrichtenagentur begeistert schreibt. Aber rockt er auch die Ampel? Oder argumentiert er angesichts des linken Übergewichts doch noch einmal wie nach der Wahl 2017, als er die Gespräche über eine Jamaika-Koalition mit dem Satz beendete, es sei besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren?

    Von Genscher einst als Mann des neuen Denkens für eine sich neu aufstellende Partei gepriesen, führt Christian Lindner im Moment einen sehr alten liberalen Kampf – den ums politische Überleben. 

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