Familie und Beruf zu vereinbaren, ist auch drei Jahrzehnte nach der großen Wende in der deutschen Familienpolitik für junge Eltern mühsamer Alltag: Zwei Jahre nach der Wiedervereinigung beschloss der Bundestag zum ersten Mal einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Mit einem Vorlauf von vier Jahren wurde ab 1996 das einklagbare Recht auf einen Kindergartenplatz eingeführt. Die Politik setzte sich damit selbst unter Druck: Hunderttausende Plätze wurden so neu geschaffen. Ebenso geschah es, als 2013 der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz für Unter-Dreijährige folgte. Doch die Nachfrage stieg so stark, dass die Suche nach einem freien Platz auch heute meist mühsam ist.
Es fehlen Fachkräfte und 600.000 Ganztagsplätze
Noch viel schwieriger sieht die Lage bei der Ganztagsbetreuung an der Grundschule aus, obwohl der Rechtsanspruch ab 2026 auch hier seit zwei Jahren beschlossene Sache ist. Doch die Kommunen sehen sich nicht der Lage ihn zu erfüllen: „Aus Sicht des Deutschen Städte- und Gemeindebundes wird der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung weder mit dem Beginn der schrittweisen Einführung im Jahr 2026 noch im Jahr 2030 flächendeckend umzusetzen sein“, sagt der Geschäftsführer des Kommunalverbands Gerd Landsberg. „Bis zum Jahr 2030 müssten die Kommunen mindestens 600.000 Ganztagsplätze zusätzlich schaffen, was allein aufgrund der angespannten Personalsituation im Bereich der Erzieherinnen und Erzieher nicht realisierbar sein wird.“
Landsberg warnt vor einer Klagewelle und unerfüllbaren Erwartungen vieler Eltern. „Konkret fordern wir, dass das Inkrafttreten des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung verschoben wird, mindestens jedoch sollte er in Regionen, die den Anspruch nicht erfüllen können, vom Land ausgesetzt werden können“, erklärt der Kommunalverbandschef.
Ulrike Bahr warnt vor Verschiebung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung
Das aber wollen die Familienpolitiker so nicht stehen lassen. „Wir haben den Rechtsanspruch bereits um ein Jahr nach hinten geschoben und eine stufenweise Einführung ab dem Schuljahr 2026/27 für die erste Klasse beschlossen“, sagt die Vorsitzende des Familienausschusses im Bundestag, Ulrike Bahr. „Eine weitere Verschiebung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter wäre nicht nur ein familienpolitisches Armutszeugnis, sondern gerade auch vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels ein verheerendes Signal für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf“, warnt die SPD-Politikerin. Bahr verweist auf die parteiübergreifende Einigkeit. Die Große Koalition aus Union und SPD habe den Anspruch 2021 beschlossen und Milliarden für den Ausbau zur Verfügung gestellt, ebenso wie die Ampel-Koalition danach.
„Der Bund hat über dreieinhalb Milliarden Euro für Investitionen bereitgestellt und eine Beteiligung an den Betriebskosten zugesagt“, betont die Ausschusschefin. Jetzt müssten die Länder dafür sorgen, dass das Geld auch vor Ort bei den Grundschulen ankomme. „Viele Schulen und Kommunen sitzen in den Startlöchern und wollen loslegen, statt noch länger auf Richtlinien der Länder zu warten. Es kann nicht sein, dass Eltern, deren Kinder heute gut in den Kitas versorgt werden, ein großes Problem bekommen, Familie und Beruf zu vereinbaren, sobald ihre Kinder in die Grundschule kommen.“
Versorgung mit Ganztagsplätzen in Schleswig-Holstein und Bayern am schlechtesten
Am schlechtesten ist laut Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts das Betreuungsangebot in Schleswig-Holstein, wo nur für 32 Prozent der Grundschüler ein Ganztagsplatz zur Verfügung steht, gefolgt von Bayern mit 38 Prozent. Derzeit gibt es in Bayern 164.000 Betreuungsplätze, mindestens 300.000 gelten als nötig.
Die bayerische Staatsregierung ist in der Kritik, weil Bayern trotz des großen Aufholbedarfs und seit Jahren langer Wartelisten für Hortplätze bis Ende 2021 nicht einmal ein Fünftel der dem Freistaat zustehenden Zuschüsse von 117 Millionen Euro abgerufen hat. „Es ist völlig unverständlich, dass ausgerechnet Bayern die wenigsten Mittel aus dem Förderprogramm des Bundes abgerufen hat, obwohl der Aufholbedarf hier bundesweit am größten ist“, sagt SPD-Politikerin Bahr. „Es drängt sich der Eindruck auf, dass der Ganztag bei der CSU aus ideologischen Gründen nicht gewollt ist“, kritisiert sie.
Das weist Bayerns Sozialministerin Ulrike Scharf zurück: „Der Ganztagsausbau ist die familien- und sozialpolitische Verantwortung unserer Zeit und Markenkern der bayerischen Familienpolitik“, sagt die CSU-Politikerin. „Die vom Bundesfamilienministerium gesetzte Frist zur Fertigstellung der Projekte ist allerdings viel zu knapp.“ Die Staatsregierung habe alle Kommunen informiert, um die Zuschüsse zu beantragen.
Kommunen warnen vor kaum durchdringbarem „Förderdschungel“
Der Geschäftsführer des Bayerischen Städtetags, Bernd Buckenhofer, kritisiert jedoch, dass die Kommunen mit einem kaum noch durchdringbaren bürokratischen „Förderdschungel“ zu kämpfen hätten. „Unabhängig von der Größe einer Stadt und Gemeinde kommen inzwischen kommunale Bauämter, Kämmereien, Jugendämter und Schulreferate in Anbetracht der Fülle an Förderprogrammen an ihre Grenzen“, klagt Buckenhofer. Sie müssten vielfältige Auflagen erfüllen und dicke Anforderungskataloge bearbeiten – oft begleitet von Gutachten.
Auch hätten bei den Investitionszuschüssen für die Ganztagsbetreuung alle Gelder bis Ende 2021 vollständig ausgegeben werden müssen. Doch bis Bund und Länder die nötigen Vereinbarungen geschlossen hätten und der Freistaat seine Förderrichtlinie erlassen habe, sei es März 2021 gewesen. „Binnen eines halben Jahres lässt sich ein Bau von der Planung bis zur Endabrechnung nicht realisieren“, kritisiert Buckenhofer. Die Kommunen tun alles, was in ihrer Macht steht, um Betreuungsplätze zu schaffen. Doch auch Bund und Freistaat müssten ihre Zusagen erfüllen, betont er.
Auch SPD-Ausschusschefin Bahr fordert nun einen gemeinsamen Kraftakt, damit der Rechtsanspruch für die Familien bis 2026 doch noch umgesetzt werden könne. „Kommunen, Länder und der Bund müssen jetzt bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs in die Pötte kommen und gemeinsam pragmatische Lösungen finden, anstatt gegenseitig Vorwürfe hin- und herzuschieben.“